Jasmin Schreiber Jasmin Schreiber

Ecological Grief, oder: das Unfassbare fassbar machen.

Die „Klimadiktatur“ wird kommen – und zwar durch den Klimawandel selbst. Weil wir keine Entscheidungen treffen wollen, die unseren hohen westlichen Lebensstandard ein wenig unbequemer machen, werden bald Entscheidungen für uns getroffen, die unseren hohen westlichen Lebensstandard unmöglich machen.

 

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Dem Leben geht keine Einladung voraus. Man wird nicht gefragt: Hey, möchtest du auf die Welt kommen? Man ist irgendwann einfach da. So in die Welt geworfen erleben wir, wie die Jahre vergehen und wir vom Baby zum Kind, dann zum Jugendlichen und schließlich zum Erwachsenen werden. Dabei tickt nicht nur unsere Uhr, das vergessen wir gerne. Auch an den Generationen vor uns nagt der Zahn der Zeit.

Unsere Eltern und Großeltern zeigen erste Alterungserscheinungen, was sich immer irgendwie befremdlich anfühlt – meine Mutter ist in meinen Augen schon immer irgendwie um die vierzig, aber wenn ich die Augen ein wenig zusammenkneife, wenn ich innerlich Abstand nehme, ist sie es eben doch nicht mehr. Dasselbe gilt für meinen Großvater, dessen einst rabenschwarzes Haar grau geworden ist. Ich könnte nicht sagen, wann das passiert ist.

Das Leben fordert seinen Tribut, mehr und mehr. Mit der Zeit verlieren wir unsere Urgroßeltern, unsere Großeltern und schließlich, wenn alles seinen natürlichen Lauf nimmt, unsere Eltern. Eines Tages stehen wir auf und stellen fest, dass es keine Vorgänger mehr gibt.

„Endling“ ist ein unglaublich trauriges Wort, vielleicht das traurigste, das ich kenne. Es wurde 1996 von Robert M. Webster und Bruce Erickson vorgeschlagen, um Menschen oder Lebewesen zu bezeichnen, die die Letzten ihrer Abstammungslinie oder ihrer Art sind. Es ist ein Begriff, der nicht nur einen biologischen oder kulturellen Zustand beschreibt, sondern auch eine tiefe emotionale Bedeutung hat. Es verkörpert den finalen Moment am Rande des Aussterbens. Das Vorhandensein eines solchen Ausdrucks in unserer Sprache spiegelt die Anerkennung dieser Realität wider. Der Komponist Andrew Schultz schrieb eine Symphonie namens „Endling“, und verfasste dazu auf seiner Webseite den folgenden Text:

[Die Zeitung] Nature hat “Endling” als “das letzte überlebende Individuum einer Art oder Pflanze” definiert. Dieses Stück entspringt einem Gefühl des Bedauerns und der Trauer über all das, was von der Erde verschwunden ist. Wunderbar angepasste Pflanzen, Tiere und Gesellschaften, die alle nicht mehr existieren und ersetzt wurden durch was? Eine Welt der Hässlichkeit, der materiellen Besessenheit, des ständigen und sinnlosen Wandels und der abscheulichen “ Vermarktung “ von allem, von einer Symphonie bis zum Lächeln eines Kindes. (…).
— Andrew Schultz
 
 

 Biologische Vielfalt verstehen

Sprechen wir über Endlinge, sprechen wir über Artensterben, über Biodiversitätsverlust. Viele Menschen haben den Ausdruck "Biodiversität" schonmal irgendwie gehört, nicht zuletzt dadurch, dass in den Medien häufiger darüber berichtet wird (aber noch lange nicht genug, nein). Schauen wir in Pubmed nach, der größten Datenbank für biologische und medizinische Artikel, sehen wir, dass bis in die 1990er Jahre nur wenige Artikel zu diesem Thema veröffentlicht wurden. Es war noch gar nicht auf dem Schirm der Weltöffentlichkeit, niemand ahnte damals, was für ein Vulkan unter unserem Wirtschaftswachstum schlummert.

Als 1992 die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio abgehalten wurde, änderte sich das. Zum ersten Mal wurde der Scheinwerfer auf Artenschutz und Nachhaltigkeit gerichtet, und danach schossen die publizierten Artikel über Biodiversität in die Höhe.

Dieser Begriff – Biodiversität, auch biologische Vielfalt genannt – beschreibt die gesamte Bandbreite des Lebens auf unserer Erde. Er umfasst nicht nur die Artenvielfalt, also die Anzahl unterschiedlicher Pflanzen, Tiere, Pilze und Mikroorganismen, sondern auch die genetische Variation innerhalb der Arten. Das bedeutet, dass verschiedene Individuen einer Spezies unterschiedliche Erbinformationen besitzen, die zu unterschiedlichen Eigenschaften führen können, die beim Überleben wichtig sein können.

Biodiversität umfasst auch die Vielfalt der Ökosysteme, also der verschiedenen Lebensräume und Lebensgemeinschaften wie Wälder, Wüsten oder Feuchtgebiete. Es geht um die Beziehungen zwischen Lebewesen, um Stoffkreisläufe, um Wechselwirkungen. Diese globale Komplexität befindet sich in einem empfindlichen Gleichgewicht, das die Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen gewährleistet. Der Verlust dieser biologischen Vielfalt droht solche komplexen ökologischen Netzwerke zu zerstören – und damit nicht nur die Lebensgrundlage von Specht, Biber und Biene, sondern auch unsere eigene.

 
 

Der Verlust und das Leugnen

Es gibt Dinge, die kann man sich nur schwer vorstellen – wie es sein wird, wenn man tot ist; dass sich das Universum ununterbrochen ausdehnt; Unendlichkeit; dass die Menschheit ausstirbt; Gott. Das sind alles Dinge, die zu einem unkonkreten, unüberblickbaren Haufen in unseren Gehirnen verknotet werden. Dinge, bei denen sich keine richtigen Bilder auftun können, weil sie zu abstrakt für uns sind.

Der Philosoph Immanuel Kant hat Phänomene, die sich der unmittelbaren menschlichen Erfahrung entziehen, als "transzendental" bezeichnet. Das bedeutet, dass sie jenseits unserer sinnlichen Wahrnehmung liegen und nur durch reines Denken erfasst werden können. Was demnach jenseits unserer empirischen, also irgendwie messbaren und erfahrbaren Erkenntnisfähigkeit liegt, kann nicht gewusst, sondern nur geglaubt werden. Und es gibt Dinge, an die will man lieber nicht glauben.

Obwohl es sich um etwas Erfahrbares und Messbares handelt, fühlt sich der Verlust der biologischen Vielfalt für viele genau so weit weg wie die oben genannten Beispiele an. Für mich ist das menschlich und psychologisch nachvollziehbar. Wenn man hört: Stell dir vor, die Eisbären sterben aus. Das kann man sich vorstellen. Man hat Bilder im Kopf, ist vielleicht traurig, bedrückt. Man sieht leere Eiswüsten vor sich, sieht den letzten Eisbär in einem viel zu warmen Zoo vor sich hin altern.  Wenn man hört: Der fortschreitende Verlust der Biodiversität wird irgendwann dazu führen, dass die Menschheit zu einer bedrohten Art wird. Leere Leinwand im Kopf. Keine Bilder. Bitte was?

 
 

Unsere menschliche Psyche, die es aus Gründen des Selbstschutzes ablehnt, über Sterblichkeit oder Endlichkeit nachzudenken, schreckt natürlich auch davor zurück, sich mit der Möglichkeit eines tatsächlichen Aussterbens auseinanderzusetzen. Verleugnung ist ein üblicher psychologischer Abwehrmechanismus, um sich vor unbequemen Wahrheiten oder Realitäten zu schützen. Wenn wir verdrängen, schaffen wir uns einen Puffer gegen unsere Ängste. Eigentlich eine gute Sache. Aber wenn dieser Schutzmechanismus angesichts existenzieller Bedrohungen aktiviert wird, führt das natürlich zu Schwierigkeiten. Er hindert uns daran, das eigentliche Problem – die Gefahr! –  zu erkennen und entsprechend zu handeln.

Wir kennen das aus anderen Bereichen. Wenn man sich nicht traut, den Brief zu öffnen, weil er schlechte Nachrichten enthält – die aber immer schlimmer werden, je länger man sich nicht darum kümmert. Der Zahnarztbesuch, den man immer weiter aufschiebt, während sich die Karies durch den Zahn frisst. Die Erkenntnis, dass man kein Geld mehr hat; jetzt noch schnell etwas kaufen, das das schlechte Gefühl vertreibt. Gibt ja Ratenzahlung. Die Hausarbeit, deren Abgabetermin immer näher rückt.

Im Zusammenhang mit dem Biodiversitätsverlust gibt es verschiedene Formen der Verweigerung, von der völligen Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse bis hin zu apathischem Desinteresse. Letzteres kann ich gut verstehen. Wenn jemand, wie viele Menschen, mit Existenzängsten kämpft, neben dem Hauptjob noch mehrere Nebenjobs ausübt und Kinder zu versorgen hat, ist die ständige Sorge um das finanzielle Überleben allgegenwärtig. Da kann man nicht erwarten, dass sich diese Menschen in ihrer Freizeit noch brav und ausführlich über Biodiversität informieren.

Darüber hinaus gibt es noch andere Gründe, warum die Beschäftigung damit so schwer fällt – auch die Politik bekommt es nicht hin, denn auch die besteht ja aus Menschen. Und die Gehirne unserer Politikerinnen und Politiker sind genau so anfällig für Verdrängung, wie alle anderen auch.

Warum es so schwer ist, unangenehmen Themen ins Auge zu blicken

Eine Freundin von mir ist ebenfalls Biologin und forscht wirklich intensiv und mit Leidenschaft zum Klimawandel. Sie liebt die Natur, will sie schützen. Als Ausgleich zu ihrem sehr fordernden Beruf reist sie gerne mit dem Flugzeug in weit entfernte Länder; schaut sich den Regenwald in Brasilien an, die Pyramiden von Gizeh, spannt zwei Wochen an Balis Stränden aus. Außerdem liebt sie Steak, und sie sagt immer Sachen wie: Na ja, so oft esse ich das Steak ja auch nicht. Oder: Ja, ich fliege viel, dafür habe ich kein Auto.

Das nennt man kognitive Dissonanz, und niemand ist frei davon. Ja, wirklich niemand – auch ich nicht. Ich setze mich sehr für Umweltschutz ein, mache keine Flugreisen, nutze Öffis und Fahrrad. Am liebsten bin ich in der Natur unterwegs, und meistens mit meinem Kameraequipment. Wo andere eine Kamera haben, habe ich vier, wo andere drei oder vier Objektive haben, habe ich die auch – pro Kamera. Für deren Akkus, von denen ich eine Menge habe, werden furchtbare Umweltsünden begangen, genau so wie für die anderen Bauteile der Geräte. Hätte es nicht auch eine Kamera getan? Klar, aber ich liebe Fotografie halt so sehr und gönne mir den umweltzerstörerischen Luxus, mich da so auszuleben, wie ich Lust habe. Dabei sage ich mir: Dafür fahre ich kein Auto, fliege nicht, esse kein Fleisch. Spiele es runter, auch vor mir selbst. Kognitive Dissonanz eben.

 
 

Wir erleben das jeden Tag in der Politik oder auch bei uns zu Hause. Ja, wir brauchen Umweltschutz, ja, wir müssen etwas gegen den Klimawandel tun! Unsere Regierungen sind Papiertiger, wenn es darum geht, aktiv zu werden. Es werden Konferenzen abgehalten, Dokumente verfasst, Verträge unterzeichnet, es herrscht großer Aktionismus. Dass die Verträge und Ziele nie eingehalten werden? Geschenkt. Aber wir versuchen es wenigstens, oder? Gleichzeitig subventionieren wir die Milchindustrie – einen der größten Klimakiller überhaupt – mit Milliarden, weil sie ein Produkt in Mengen herstellt, für das es hier vor Ort keine Abnehmer gibt. Wir planen Offshore-Windparks, um die Energiewende zu schaffen, und blenden dabei völlig aus, dass wir damit riesige Meeresgebiete zum Beispiel für Wale unbewohnbar machen, was einen ungeahnten Dominoeffekt haben kann. Etwas gegen den Klimawandel und gleichzeitig fürs Artensterben getan, aber wir können Windräder ja nicht irgendwo aufstellen, wo sie uns die Sicht verschandeln, oder? Wir machen uns Sorgen, weil die Gesellschaft immer älter wird, legen aber den Familien, vor allem den Müttern, jeden Stein in den Weg, den wir finden können. Wollen uns gegen die steigende Kinderarmut einsetzen, kürzen Leistungen. Wir setzen uns für Straßenhunde ein, spenden für den Tierschutz und essen Kalbfleisch.

Das alles geschieht, weil wir Menschen sind. Weil wir oft in Gleichzeitigkeiten leben, in denen sich mehrere Informationen völlig widersprüchlich gegenüberstehen und wir nicht wissen, wie wir uns jetzt verhalten sollen, weil sie für uns gleich wichtig, gleich wahr sind. Weil das alles schwer zu ertragen ist und weil niemand perfekt ist. Weil wir keine Maschinen sind, im Gegenteil: Wir haben Emotionen, Wünsche, Sehnsüchte, Ängste, und all das macht es uns schwer, rein faktenbasierte Entscheidungen zu treffen. Und es wäre auch nicht immer richtig. Wir brauchen Empathie, Moral und Ethik, um nicht in eine Gesellschaft zu kippen, in der Einzelne oder Schwächere nichts mehr zählen.

Dann ist da noch die Perspektive des Klimaschutzes.

Wir wissen, dass es uns langfristig besser geht, wenn wir mehr Sport treiben und uns gesund ernähren. Das machen wir auch eine Zeit lang – wir stehen um sieben Uhr auf, um vor der Arbeit eine Runde zu joggen, wir packen Salat und Tofu in den Einkaufskorb. Das geht drei, vier Tage gut, vielleicht auch drei, vier Wochen. Aber dann kommt die Erkenntnis, dass sich sichtbare Erfolge nicht von heute auf morgen einstellen. Ja, ich habe heute mein Verhalten geändert, aber das Ergebnis sehe ich vielleicht erst in einem Jahr. Was habe ich jetzt davon? Man lebt nur einmal. Was, wenn ich morgen vom Bus überfahren werde? Irgendwann setzen die Laufschuhe Staub an, der Job ist auch sehr stressig, lieber jeden Schlaf nehmen, den man kriegen kann. Langsam schleichen sich auch wieder Wiener Würstchen und Schokolade in den Einkaufskorb. Ich soll in einem Jahr sportlicher und gesünder sein? Das kann ich mir nicht vorstellen, zu weit weg, zu abstrakt.

 
 

Dasselbe gilt für den Umweltschutz. Um wirklich einen Unterschied zu machen, um das Tempo der menschengemachten Erderwärmung und des Artensterbens irgendwie zu verlangsamen, müssten wir sehr unangenehme Maßnahmen ergreifen und diese dann jahrzehntelang durchhalten, bis wir ein Ergebnis sehen. Und das Ergebnis ist nicht ein „wow, stimmt, jetzt ist alles besser“, sondern ein „es ist so wie jetzt, nur zum Glück ist es durch die Maßnahmen nicht schlimmer geworden“. Diese „Belohnung“ schmeckt schal, fühlt sich an, als wäre nichts besser geworden. Und dafür die ganze Mühe? Damit alles so bleibt wie es ist? Ist es jetzt nicht eigentlich gut, sollten wir nicht zufrieden sein? Dass es ohne die Maßnahmen schlimmer wäre – unvorstellbar, zu abstrakt. Wie soll dieses „schlimmer“ aussehen? Kann ich mir nicht vorstellen, sorry. Dass es für viele Menschen auf der Südhalbkugel schon schlimmer geworden ist, dass es schon nicht mehr gut ist? Dass dort schon Kriege um Wasser und Ressourcen geführt werden? Geschenkt. Das ist da unten, das sind die anderen. Jahrhundertelanger Kolonialismus und rassistische Vorstellungen über Kulturen weiter südlich schlagen den Nagel auf den Sargdeckel. Nicht unser Problem, ich spende jedes Weihnachten für Brot für die Welt, lasst mich in Ruhe.

Wir sind starr vor Angst

Es gibt noch viele andere Gründe, warum wir es als Gesellschaft einfach nicht schaffen, das „Richtige“ zu tun. Aber einer ist auf jeden Fall, dass eine repräsentative Demokratie, in der wir hier in Deutschland leben, eine Masse von vielen Menschen mit vielen unterschiedlichen Zielen und Prioritäten ist. Das ist an und für sich gut, Demokratie ist für mich alternativlos. Wir brauchen sie und müssen sie schützen. Dennoch macht vieles langwierig und unglaublich träge – ein echtes Dilemma. Wie sagt man so schön klischeehaft: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Vor allem in Zeiten von Social Media, in denen jeder seine Meinung nach außen tragen kann, werden Politikerinnen und Politiker in Sorge um ihre Wahlergebnisse in Angststarre versetzt. Jetzt nichts falsch machen, nicht die eine oder andere Seite verärgern, nicht zu viel verändern, keine unangenehmen Entscheidungen treffen, sonst werde ich abgewählt. Heute nochmal das FCKW-Verbot durchsetzen, um das Ozonloch zu schließen, wie wir es vor ein paar Jahrzehnten so konsequent geschafft haben? Unvorstellbar. Ich persönlich denke nicht, dass es uns heutzutage gelingen würde.

 
 

Momentan liest man oft: Keine Klimadiktatur! Doch die Wahrheit ist:

Die „Klimadiktatur“ wird kommen – und zwar durch den Klimawandel selbst.

Dem Weltklima sind Wahlergebnisse völlig egal. Dem Biodiversitätsverlust auch. Weil wir als Gesellschaft nicht in der Lage sind, die notwendigen, unbequemen Entscheidungen zu treffen, lassen wir alles weiterlaufen. Wie die Angstpost, die wir nicht öffnen. Wie die Karies, die sich inzwischen von einem Backenzahn zum nächsten ausgebreitet hat. Es hat keinen Sinn, die Augen zu verschließen und sich zu wünschen, dass es nicht so wäre. Magisches Denken hilft uns nicht weiter. Weil wir keine Entscheidungen treffen wollen, die unseren hohen westlichen Lebensstandard ein wenig unbequemer machen, werden bald Entscheidungen für uns getroffen, die unseren hohen westlichen Lebensstandard unmöglich machen. Dann werden wir in unseren überfluteten Häusern sitzen und denken: Hätten wir doch die Energiewende zwanzig Jahre früher angepackt. Hätten wir doch endlich mal auf die Bauwirtschaft geschaut, die mit Beton und Co. die größte Dreckschleuder überhaupt ist und völlig unter dem Radar fliegt, während wir über SUVs und Flugreisen jammern. Hätten wir doch nur auf die Wissenschaft gehört.

Ecological Grief

Ja, die Wissenschaft. Das ist der Grund, wieso ich mich überhaupt aufgerafft habe, diesen viel zu langen Text zu schreiben. Cunsolo & Ellis definieren Ecological Grief (übersetzt: „ökologische Trauer” oder “Umwelttrauer”) in ihrem 2018 erschienenen Paper so:

"Der Kummer, der im Zusammenhang mit erfahrenen oder erwarteten ökologischen Verlusten empfunden wird, einschließlich des Verlusts von Arten, Ökosystemen und bedeutungsvollen Landschaften aufgrund akuter oder chronischer Umweltveränderungen."

Der psychische Druck und die Belastung sind immens und können zu schweren Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen führen. Besonders gefährdet sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die vor Ort forschen, aber auch Menschen, die einen engen Bezug zur Natur haben – zum Beispiel indigene Kulturen. Auch Menschen, die gerne wandern, tauchen, bergsteigen, die Natur fotografieren oder auf dem Land leben, können stark betroffen sein.

Diese Woche war ich in einem meiner aktuellen Forschungsgebiete, einem Moor hier in Hamburg. Während ich meine Messungen durchführte, hielt ein älterer Herr mit seinem Fahrrad an und fragte mich, was ich da mache. Ich erklärte ihm, dass ich Untersuchungen zur Biodiversität durchführe. Daraufhin erzählte er mir, dass er Jahrgang 1940 sei und schon als Kind im Moor gespielt habe. Damals sei es ringsum noch grün und unbebaut gewesen, es habe viel Sonnentau gegeben (heute unvorstellbar), Molche, Salamander, Störche. Er hielt inne, wir schwiegen beide, und es sah so aus, als ob er nach Worten rang, überwältigt von seinen Gefühlen. Er lächelte dann jedoch nur, nickte mir zu und wir verabschiedeten uns.

 
 

Ecological Grief ist etwas, das ich gut kenne. Ich liebe die Natur, schon immer, und die Umweltzerstörung ist so schwer zu ertragen. Ich bin sogar in die Wissenschaft zurückgekehrt, obwohl ich das nie wollte. Einfach, weil es so viel zu tun gibt. Weil ich das Gefühl habe, irgendwas machen zu müssen.

Für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – mich eingeschlossen – ist es unerträglich zu sehen, wie Erkenntnisse ignoriert werden. Wir haben die Daten und Fakten, die „Beweise“. Wir wissen, was notwendig ist. Die Politik lobt uns, versichert uns, wie wichtig das ist, was wir tun – und dann passiert so gut wie nichts. Und wenn, dann zu wenig und zu spät. Die Erde erlebt derzeit das sechste Massenaussterben ihrer Geschichte, diesmal vom Menschen verursacht. Damit einher geht ein rapider Rückgang der Produktivität unserer globalen Ökosysteme. Die Biosphäre wird durch menschliches Handeln irreversibel geschädigt. In ihrer wissenschaftlichen Veröffentlichung zur Definition des Anthropozän identifizieren Francine McCarthy und ihr Team den starken Anstieg der Plutoniumisotope 239 und 240 ab etwa 1948 als den zentralen „Marker“. Dieser Anstieg ist auf den Fallout der Atombombenexplosionen zurückzuführen, die dieses von Natur aus extrem seltene Element zum ersten Mal in der Erdgeschichte in großen Mengen freigesetzt haben. Kurz gesagt: Der geologische Fußabdruck, den wir Menschen in den Gesteinsschichten (und damit in der Erdgeschichte) hinterlassen, ist die Atombombe – sofern der Vorschlag dieser Forschungsarbeit akzeptiert wird. Das ist unser Erbe.

Den Folgen unseres Handelns als Spezies stehen die Forschenden von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Es ist, als würde man zusehen, wie jemand ermordet wird, aber die Polizei tut nichts und hört einfach nicht zu. Und doch ist es real. Man hat es direkt vor Augen. Man hört die Schreie, man riecht das Blut. Man denkt: Mein Gott, was braucht es noch? Man bekommt ein Formular, das soll man bitte ausfüllen. Nein, es muss jetzt jemand kommen, wir müssen das Opfer retten! Bitte einfach das Formular ausfüllen, irgendwann wird sich schon jemand darum kümmern, also wahrscheinlich, vielleicht, eventuell. Mal sehen.

 
 

Ich habe Kolleginnen und Kollegen weinen sehen, nachdem sie von Exkursionen zurückkamen. Kenne Leute, die die Forschung verlassen haben, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben, jeden Tag dieses Elend zu sehen und zu verwalten. Viele meiner forschenden Freundinnen und Freunde trinken häufiger Alkohol als früher. Ich bin selber damals deshalb aus der Wissenschaft rausgegangen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, das mein Leben lang aushalten zu können. Ich hatte mehrere Jobs, jetzt bin ich Autorin. Eigentlich wollte ich nur in Ruhe Bücher schreiben, doch jetzt bin ich zurück hinterm Mikroskop. Ehrlich gesagt weiß ich noch nicht, was ich davon halten soll. Die Zeit wird es zeigen.

Der Meeresbiologe Steve Simpson berichtete 2020 in einem Guardian-Interview Folgendes:

Als wir 2006 nach einer großen Korallenbleiche zum Great Barrier Reef zurückkehrten, hatte es sich in einen Friedhof verwandelt. (…) Es war absolut niederschmetternd, die Korallen, an denen wir so lange geforscht hatten und die wir liebten, nun tot zu sehen. Ich hatte gerade einen Doktoranden eingestellt, der das Verhalten von Fischen untersuchen sollte. In der Zeit zwischen seiner Einstellung und dem Beginn der ersten Feldsaison starb das Great Barrier Reef. 80 Prozent der Korallen, an denen wir arbeiteten, waren verschwunden, und die meisten Fische, die dort gelebt hatten, waren abgewandert. Ich hatte ihm beim Vorstellungsgespräch versprochen, dass sein Besuch dort unglaublich werden würde. Am Ende war es nur ein Friedhof, ein historisches Zeugnis des früheren Lebens im Korallenriff. (…) Wir kommen immer gebrochener von unseren Einsätzen zurück. Man kann entweder denken: Ich kann das nicht, ich muss meine wissenschaftliche Arbeit ändern, oder man kann versuchen, all den Schmerz, den man empfindet, in sich hineinzufressen. Viele Forschende machen letzteres (…).
— Steve Simpson

Was tun?

Es ist wichtig, dass wir nicht länger darüber schweigen, wie wir uns dabei fühlen. Dass auch wir Forschenden uns austauschen und daran arbeiten, uns gegenseitig zu unterstützen. Wir müssen Wege finden, wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur als traurige Nachrichten zu sehen, die wir uns gegenseitig als Horrorgeschichten erzählen.

Aber das ist so schwierig. Wenn ich Kolleginnen und Kollegen frage, ob sie noch Hoffnung haben, dass wir es schaffen, sagen sie: Nein. Und nicht nur einige, sondern eigentlich alle in meinem Fachbereich. Mir geht es genau so. Aber wir sind uns auch einig: Dass man vieles noch schlimmer machen kann, wenn man sagt: Na gut, dann ist es jetzt auch egal. Aufgeben ist keine Option, egal wie gering die Chancen sind. Dabei hätten wir theoretisch so, so gute Aussichten, wenn wir uns gemeinsam anstrengen würden. Unsere Lebensqualität könnte noch mehr steigen, nicht nur für uns, sondern auch für all die Menschen aus ärmeren Ländern, die wir hier im Westen gerne ausbeuten und dann vergessen. Aber ach, Menschen. Wie kann eine Spezies nur so genial und gleichzeitig so saudoof sein, es will mir nicht in mein dummes kleines Menschenhirn.

Jetzt erwarten viele hier vermutlich einen Appell. Ich sag, wie es ist: Ich fühle mich wie ein müder Papagei.

Die Daten sind klar. Die Fakten liegen alle auf dem Tisch. Wir wissen, was zu tun ist. Die Politik ist bestens informiert. Es wurde und wird alles gesagt. Man kann die Umweltzerstörung nicht stoppen, indem man Bambuszahnbürsten kauft und die Leute bittet, im Schwarzwald Urlaub zu machen. Der einzig wirkmächtige Hebel liegt in den Händen der Politik, weil nur sie die Wirtschaft in einem Umfang beeinflussen kann, der einen Unterschied macht.

Vielleicht teilen Menschen diesen Text, schreiben dazu: Deshalb müssen wir die Biodiversität schützen! Vielleicht lesen den Text sogar Politikerinnen und Politiker, die ihn ebenfalls teilen, und ebenfalls sagen: Biodiversitätsschutz ist uns ein wichtiges Anliegen! Wir klopfen uns dann alle auf die Schulter, versichern uns, dass uns das alles wirklich wichtig ist, also so richtig. Und dann gehen wir auf Instagram und bestellen parallel noch schnell was in nem Onlineshop (und ich kleiner, unperfekter Mensch bin hier mitgemeint) und sinken wieder in den angenehmen Schlummer, in dem wir alles verdrängen.

 
 

Klinge ich desillusioniert? Ja. Vermutlich, weil ich es bin. Wenn mich Menschen dieser Tage fragen: Glaubst du, wir schaffen es, das Ruder noch rechtzeitig rumzureißen?, frage ich: Schlaue Antwort oder ehrliche Antwort? Wenn eine schlaue Antwort gefordert wird, sage ich: Es besteht immer Hoffnung, wir Menschen haben schon unvorstellbare andere Sachen geleistet, und wenn wir endlich alle an einem Strang ziehen, kriegen wir das hin! Es ist so viel Potenzial da! Wenn man nach der ehrlichen Antwort fragt, sage ich: Nein. Denn wir haben noch nie irgendein Ruder rumgerissen, bevor es so richtig, richtig schlimm wurde. Man muss nur auf die Weltkriege schauen, dann weiß man Bescheid. Wir sind Trottel.

Dieser Text ist erstens viel zu lang, zweitens überhaupt nicht wholesome und drittens persönlich. Das sind meine Gedanken, das ist meine momentane Gefühlslage, die nicht allgemeingültig ist, zum Glück. Es gibt viele hoffnungsvollere Menschen als mich. Aber ich bin auch nicht ganz ohne Hoffnung. Ich glaube nicht, dass wir es schaffen, aber irgendwie hoffe ich es. Letztendlich bin ich auch nur ein Mensch, und zwischen all den dunklen Gedankenwolken in mir ist immer noch dieses kleine glimmende Leuchtfeuer, das einem Hoffnung gibt, egal wie gering die Chancen sind. Die Menschen sind seltsam, nicht wahr? Am Ende bleibt mir sowieso nichts anderes übrig. Ich forsche, ich verwalte mit zehntausenden anderen Forschenden das Artensterben, ich katalogisiere; dazwischen weine ich manchmal, schimpfe und fluche, aber ich hoffe auch immer wieder, weil ich sonst komplett verrückt werde.

Traurig, wenn einem nur die Hoffnung bleibt.

Gut, wenn einem wenigstens die Hoffnung bleibt.

 

Falls das noch nicht deprimierend genug war und du Lust hast, über das Artensterben in (trauriger, lustiger und ein bisschen gruseliger) Romanform zu lesen, kann ich dir meinen neuen Roman empfehlen. Er heißt “ENDLING” und kommt am 24. November raus. Er ist jetzt schon vorbestellbar, und am meisten habe ich davon, wenn du ihn im Shop der Autorenwelt vorbestellst. Das geht hier.

Und wenn du diese Bestellung bis zum 05. November machst, gibt es das Buch sogar signiert.

Wenn du mehr über Biodiversität und Natur erfahren willst, empfehle ich dir noch meine beiden Bücher “Biodiversität, 100 Seiten” und “Schreibers Naturarium”. Letzteres ist sogar wholesome – versprochen.


Quellen

Usher, K., Durkin, J., & Bhullar, N. (2019). Eco-anxiety: How thinking about climate change-related environmental decline is affecting our mental health. International Journal of Mental Health Nursing, 28(6), 1233–1234. https://doi.org/10.1111/INM.12673

How scientists are coping with ‘ecological grief’ | Science | The Guardian. (n.d.). Retrieved October 20, 2023, from https://www.theguardian.com/science/2020/jan/12/how-scientists-are-coping-with-environmental-grief

Cunsolo, A., & Ellis, N. R. (2018). Ecological grief as a mental health response to climate change-related loss. Nature Climate Change 2018 8:4, 8(4), 275–281. https://doi.org/10.1038/s41558-018-0092-2

Rosol, C., Schäfer, G. N., Turner, S. D., Waters, C. N., Head, M. J., Zalasiewicz, J., Rossée, C., Renn, J., Klingan, K., & Scherer, B. M. (2023). Evidence and experiment: Curating contexts of Anthropocene geology. Anthropocene Review. https://doi.org/10.1177/20530196231165621

Crawford Lake designated as “golden spike” | Max-Planck-Gesellschaft. (n.d.). Retrieved October 20, 2023, from https://www.mpg.de/20614579/crawford-lake-anthropocene

McCarthy, F. M. G., Patterson, T., Head, M. J., Riddick, N. L., Cumming, B. F., Hamilton, P. B., Pisaric, M. F. J., Gushulak, C., Leavitt, P. R., Lafond, K. M., Llew-Williams, B., Marshall, M., Heyde, A., Pilkington, P. M., Moraal, J., Boyce, J. I., Nasser, N. A., Walsh, C., Garvie, M., … McAndrews, J. H. (2023). The varved succession of Crawford Lake, Milton, Ontario, Canada as a candidate Global boundary Stratotype Section and Point for the Anthropocene series. Anthropocene Review. https://doi.org/10.1177/20530196221149281

Comtesse, H., Ertl, V., Hengst, S. M. C., Rosner, R., & Smid, G. E. (2021). Ecological Grief as a Response to Environmental Change: A Mental Health Risk or Functional Response? International Journal of Environmental Research and Public Health, 18(2), 1–10. https://doi.org/10.3390/IJERPH18020734

Offshore-Windkraft in Deutschland - NABU. (n.d.). Retrieved October 20, 2023, from https://www.nabu.de/natur-und-landschaft/meere/offshore-windparks/index.html

Biodiversity - Search Results - PubMed. Retrieved March 9, 2022, from https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/?term=biodiversity&timeline=expanded

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Insektenfreundliches, unkompliziertes Gärtnern mit heimischen Pflanzen

Schon länger wollte ich einen Artikel darüber schreiben, wie ich meinen Dachgarten gestalte, und wie man überhaupt naturnahe Gärten anlegen kann, die für Insekten, Vögel, Igel und Co. einladend wirken – und auch “Unkraut” hassende Nachbarn nicht auf den Plan ruft. Vorab: Ich bin keine Gärtnerin. Das hier ist der Dachgarten einer insektenbegeisterten Biologin, die gerne Wildkräuter wie Knoblauchsrauke, Löwenzahn und anderes in sich reinstopft.

 

Schon länger wollte ich einen Artikel darüber schreiben, wie ich meinen Dachgarten gestalte, und wie man überhaupt naturnahe Gärten anlegen kann, die für Insekten, Vögel, Igel und Co. einladend wirken – und auch “Unkraut” hassende Nachbarn nicht auf den Plan ruft. Vorab: Ich bin keine Gärtnerin. Das hier ist der Dachgarten einer insektenbegeisterten Biologin, die gerne Wildkräuter wie Knoblauchsrauke, Löwenzahn und anderes in sich reinstopft.

 

Eine Ecke in meinem Dachgarten

 

Wieso überhaupt “naturnah” gärtnern?

Sobald wir unsere Wohnung verlassen, finden wir uns inmitten einer Vielzahl von Lebewesen wieder, oft ohne uns dessen bewusst zu sein. Spinnen, Tausendfüßer, Asseln, Würmer, Vögel, Schnecken – sie alle leben um uns herum, während wir häufig achtlos an ihnen vorbeigehen. Wir richten unseren Blick gern auf spektakuläre Natur-Dokus bei Netflix und Co., die uns in ferne Regenwälder entführen und uns schillernde Käfer, farbenfrohe Papageien bewundern lassen, während viele Menschen nicht einmal wissen, dass es Muscheln nicht nur am Meer, sondern auch im Bach hinter dem Haus gibt.

Naturnahes Gärtnern kann das ändern. Mit heimischen Kultur- und Wildpflanzen laden wir kleine Bewohnerinnen und Bewohner vor Ort ein, eine gemütliche Wohngemeinschaft mit uns zu gründen. Gerade in Städten haben Insekten, Vögel und andere Tiere oft Schwierigkeiten, Nahrung zu finden. Schon mit kleinsten Balkonen oder auch einfach nur mit (gut gesicherten) Kästen und Töpfen auf Fensterbrettern könnt ihr wichtige kleine Oasen für die Natur schaffen.

Freut euch schon einmal: Insektenfreundliches Gärtnern ist äußerst faulenzerfreundlich. Natürlich können sich hier ambitionierte Gärtner:innen richtig in Extase gärtnern, allerdings ist das hier auch genau das Richtige für den Typus "einfach wachsen lassen, ab und zu gießen, falls nötig".

 

Eine Waldhummel, Bombus sylvarum, auf einem Teufelsabbiss

 

Kennt ihr diese Webseiten mit Rezepten, wo dann erst einmal die halbe Lebensgeschichte erzählt und dargestellt wird, für wen jetzt wieso dieses Rezept, das die Großmutter aus Italien schon, damals, und so weiter….? So wird das hier nicht, ich komme deshalb direkt zur Sache.

Ein Kübel kann ein Garten sein, wenn man klein genug ist

Viele Menschen (ich würde mal steil behaupten: die meisten) haben keinen Garten. Doch um zu gärtnern, braucht man nicht unbedingt einen – oft genügt ein kleiner Balkon, ein Fensterbrett, ein gemeinschaftlicher Innenhof oder eine Baumscheibe. Da ich einen Dachgarten besitze, der jedoch keine geeignete Tiefe zum direkten Bepflanzen bietet, nutze ich Hochbeete, Pflanzsäcke und irgendwelche Kübel, die ich so dicht bepflanze, dass sie durch die überhängenden Blätter miteinander verbunden sind. Insekten ohne Flügel können so einfach hindurchwandern. In etwa der Hälfte der über 50 Hochbeete und Kübel finden sich Obst- und Gemüsepflanzen sowie Kräuter, der Rest besteht aus einigen Zierpflanzen wie Hortensien und hauptsächlich dem, was andere als "Unkraut" bezeichnen, von dem auch nochmals die Hälfte essbar ist. So sieht es in meiner Liegeecke aus:

 

Meine kleine Liegeecke. Vorn in den Pflanztaschen finden sich Salate, die ich regelmäßig abernte. Einen Teil lasse ich immer stehen, damit er blüht und sich selbst wieder aussät. Das, was da gerade kurz vor der Blüte so hochsteht, ist Wildrauke, also eine Rucola-Art. Links im gelben Hochbeet finden sich Kräuter, die Baumstümpfe neben dem Tisch sind mit Pilzen angeimpft, von denen ich heute die erste Fuhre geerntet habe, rechts neben den Baumstämmen finden wir ein Hochbeet voller Klee, Löwenzahn, Tulpen, Disteln und anderen Wildpflanzen aus der Gegend. In den anderen Kübeln ist eine Mischung aus Zierpflanzen, Wildkräutern und kleinen Obststräuchern.

Links sind ein paar Zierpflanzen, dazwischen ist eine kleine Insektentränke (wichtig, hoch genug mit Kieselsteinen anfüllen, damit niemand ertrinkt) und auch ein kleiner Steinhaufen für Insekten als Unterschlupf. Im Kübel rechts wuchern Gräser, Klee und Disteln, deren Samen ich im Herbst hier in der Nachbarschaft geerntet habe. Es lohnt sich übrigens immer, auf eBay Kleinanzeigen nach günstigen oder kostenlosen Kübeln und Töpfen zu schauen, nach Mörteleimern und -wannen, die man anbohrt, und so weiter.

Eine Hummel macht ein Nickerchen, während eine Ameise arbeitet

Links sieht man wieder die Pilzstämme. Im gelbgrünen Hochbeet sieht man sehr hohe Kleepflanzen, es ist das zweite Jahr für sie. Im ersten Jahr waren sie “normalgroß”, da ich sie aber noch nie gemäht habe und auch nicht drauf herumlaufe, sind sie dieses Jahr richtig hochgeschossen. Es ist normaler Wiesenklee, den ich in einem nahegelegenen Park stibitzt habe. Dazwischen findet man Kletten-Labkraut, ein paar Gräser, im Frühjahr auch Tulpen. Vorn im Topf sieht man eine kleine Skulptur, die mal in einem meiner Aquarien stand. Wenn die Pflanzen da durchwachsen, ist das ein toller Insektenunterschlupf. Plus: Es sieht cool aus! Ausgesät habe ich dort eine regionale Insektenweide.

 

Das Schöne an Kübeln: Es spielt keine Rolle, wie viel oder wenig Platz man hat. Zudem lassen sie sich flexibel verschieben. Für uns mögen Kübel klein wirken, aber Insekten können darin leben, nisten und sich davon ernähren. Klug bepflanzt, bietet ein Kübel alles, was man braucht, wenn man kleiner als eine Faust und kein Wirbeltier ist.

Kübel und Hochbeete sind auch gute Kompromisse für Menschen, die "ordentliche" Gärten bevorzugen. Es ist nichts Schlimmes daran, wenn einem ein aufgeräumter Garten oder Balkon besser gefällt. Je nach Platz kann man einfach ein oder zwei Hochbeete oder Kübel mit "Unkraut" bepflanzen und den Rest des Balkons oder Gartens im englischen Stil gestalten, wenn man möchte.

Welche Erde soll in meine Kübel?

Zuerst das Wichtigste: Ich kaufe nur torffreie Erde. Moore sind riesige Kohlenstoffsenken. Dennoch wird in Europa immer noch Torf abgebaut, um ihn als Gartenerde zu verkaufen. Bitte kauft KEINE Blumen-/Gartenerde mit Torf! Wenn ihr darauf achtet, helft ihr ganz konkret unserer Umwelt. Schaut mal in diesen torffreien Einkaufsführer für Erden, den der BUND herausgegeben: Link >>

Ich mische die Erde in meinen Hochbeeten und Kübeln häufig selbst an. Unten packe ich meist Grundfüllung für Hochbeete rein, also so anzersetzter Grünschnitt, das sind so 40 Prozent. Darüber kommen 30-40 Prozent Kompost aus Laub, Rinde oder eben aus meinem Komposter. Steht der Kübel sehr sonnig und mag die Pflanze das, mische ich noch 10 Prozent Blähton rein, damit das Wasser besser gespeichert werden kann. Die restlichen 10 Prozent bestehen aus Sand. Steht der Kübel eher schattig, spare ich mir den Blähton und fülle einfach mit Sand auf. Oben packe ich dann gern noch eine dünne, vielleicht 3-4 Zentimeter tiefe Schicht gekaufte Universalerde drauf, damit vor allem Samen besser keimen können. Ich mische die Schichten auch leicht durch, aber nicht komplett.

Habe ich jetzt Pflanzen, die einen mageren Boden wollen, kriegen sie unten einfach 30 Prozent Hochbeeterde, bzw. Grünschnittkompost rein, 30-40 Prozent Lehm oder ein ähnliches nährstoffarmes Substrat und der Rest wird mit Sand und Kies aufgefüllt.

Und ganz am Ende kommt die Crème de la Crème drauf: Würmer. Nicht nur in meinem Komposthaufen, sondern auch in all meinen Kübeln, in denen keine nährstoffhassenden Pflanzen leben, habe ich Kompostwürmer, die den Boden schön locker halten, abgestorbene Wurzeln essen und denen ich eben immer mal wieder Laub und alles untermische. Da freuen sich Pflanze und Wurm!

 

Ein ausgewachsener Kompostwurm und ein Jungtier

 

Heimische Pflanzen für Kübel (und den Garten)

Und nun kommen wir zum Wichtigsten - den Pflanzen. Diese sind nicht nur für Kübel geeignet, sondern können auch in Freiflächen ausgesät werden. Locker über 80 Prozent meiner Pflanzen (abgesehen von Salaten oder anderen Pflanzen, die ich komplett ernte) sind winterhart und/oder mehrjährig. Ich bevorzuge einheimische Wildpflanzen, da ihr ökologischer Wert für die Tiere, die ich in meinem Garten anlocken möchte, besonders hoch ist. Auch bei Kräutern achte ich darauf, winterharte Sorten zu kaufen. Meine Pflanzenauswahl ist daher langfristig geplant und auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. Da es mir natürlich auch Freude bereitet, im Frühjahr etwas Neues anzupflanzen, behalte ich 20 Prozent des Platzes für Experimente oder einjährige Pflanzen.Wer aber sowieso eher nicht so viel Lust hat, zu gärtnern: Heimische Wildpflanzen könnt ihr aussäen und müsst dann nicht mehr viel mehr machen, wenn das mal alles gut eingependelt ist.

Ich informiere mich vorab auch darüber, welche Bedürfnisse welche Pflanze hat, das heißt: Wie groß muss der Kübel sein, braucht sie viel oder wenig Wasser, mag sie es schattig oder sonnig? Früher hatte ich mehr Hortensien, weil sie zu meinen Lieblingspflanzen gehören, die haben aber großen Durst. Deshalb habe ich mittlerweile nur noch eine – durch die Klimaerwärmung hab ich da sonst hunderte Euro an Wasser reingeschüttet.

Hier also ein paar Pflanzenlisten mit einigen der Arten, die sich in meinem Garten finden:

Standort: Sonnig bis halbschattig

Wiesensalbei, Salvia pratensis

Wiesenklee, Trifolium pratense

Kapuzinerkressen, Tropaeolum

Gewöhnlicher Hornklee, Lotus corniculatus

Gänseblümchen, Bellis perennis

Polster-Seifenkraut, Saponaria ocymoides

Hungerblümchen, Erophila verna

Hundsrose, Rosa canina

Nickendes Leimkraut, Silene nutans

Lavendel, z.B. Lavandula angustifolia

Storchschnabelarten, Geranium

Katzenminze, Nepeta cataria

Bibernellrose, Rosa spinosissima

Kornrade, Agrostemma githago

Frühblüherzwiebeln: Krokus, Akelei, Narzisse, Hyazinthe, Tulpen, Schachbrettblumen, Schneeglöckchen, usw.

Färberkamille, Anthemis tinctoria

Moschusmalve, Malva moschata

Fetthenne, Sedum spectabile

Scharfer Mauerpfeffer, Sedum acre

Günsel, Ajuga

Ehrenpreis, Veronica

Zimtrose, Rosa majalis

Echte Kamille, Chamomilla matricaria

Ochsenauge, Buphthalmum salicifolium

Acker-Stiefmütterchen, Viola arvensis

Löwenzahn, Taraxacum sect. Ruderalia

Gewöhnlicher Dost Origanum vulgare

Waldrebe, Clematis

Echtes Labkraut, Galium verum

Wicken, Vicia

Verschiedene Moose

 
 

Standort: Schattig

Klatschmohn, Papaver rhoeas

Sternmoos, Sagina procumbens

Bärlauch, Allium ursinum

Efeu-Gundermann, Glechoma hederacea

Buschwindröschen, Anemone nemorosa

Duft-Salomonssiegel, Polygonatum odoratum

Blutampfer, Rumex sanguineus

Schattensegge, Carex umbrosa

Waldmeister, Galium odoratum

Vergissmeinnicht, Myosotis

Beinwell, Symphytum

Nesselglockenblume, Campanula trachelium

Echtes Lungenkraut, Pulmonaria officinalis

Mauer-Zimbelkraut, Cymbalaria muralis

Efeu, Hedera helix

Waldrebe, Clematis

Blut-Storchschnabel, Geranium sanguineum

Wald-Frauenfarn, Athyrium filix-femina

Kuckucks-Lichtnelke, Silene flos-cuculi

 
 

Ansonsten habe ich noch eine Menge Obst und Gemüse im Garten. Kirsch- und Pflaumenstämmchen, Himbeeren, Brombeeren, verschiedene Erdbeerarten, mehrere Heidelbeersträucher, Apfelbäumchen, Zitronenbäumchen, mehrere Johannisbeersträucher, Wassermelonen, Tomaten, Erbsen, Bohnen, Salate, viele typische Kräuter wie Oregano oder Basilikum, heimische Kräuter wie Brennnessel, Löwenzahn, Knoblauchsrauke und Co. Ich pflanze auch alte Kultursorten wie Borretsch, Böhmischer Strunk und Co. an. Unten gebe ich noch Tipps, wo ihr gutes Saatgut herbekommt, auch von “vergessenen Sorten”.

 

In der Ecke wachsen hauptsächlich Obstgehölze wie Heidelbeeren, verschiedene Johannisbeeren, Himbeeren, Kirschen.

Die gleiche Insel von der anderen Seite. Im Kübel rechts von der Himbeere mit der Clematis drin wächst am Boden wunderschönes, kleines Brunnenlebermoos.

 

Generell mache ich es so, dass ich kaum typische Sortenbeete anlege, sondern alles mische, damit pro Jahreszeit immer etwas in so einem Hochbeet aktiv ist. Das ist auch praktisch, weil dann, wenn ich eine Sache geerntet habe, die Kübelhälfte nachsäen kann, während der Nachbar kurz vorm Reifen oder der Blüte ist, der Kübel also nicht leer rumsteht. Das Tolle an heimischen (Wild-)Pflanzen ist, dass man sie getrost sich selbst überlassen kann. Es dauert eine Weile, bis sich eine Pflanzengemeinschaft eingependelt hat.

Ich setze fast nie einzelne Pflanzen in ein Gefäß, sondern immer mehrere. Es kann passieren, dass eine Pflanze sich stärker ausbreitet und eine andere verdrängt, hier und da muss ich also etwas optimieren. Aber nach 1-2 Saisons merkt man, dass alles seinen Gang geht. Ich muss in meinem Garten nicht viel machen außer einpflanzen, ernten und gießen, wenn Klimakrise “sei Dank” wieder mal wochenlang kein Regen kommt. Ich achte aber sowieso darauf, Pflanzen zu setzen, die gut mit Feuchtigkeitsentzug klarkommen, beziehungsweise pflanze ich durstige Gewächse in größere Kübel und stelle sie etwas halbschattig bis schattig. Man kann aber durchaus sagen: Mein Garten ist perfekt für alle, die Lust darauf haben, nichts zu tun.

Bäume lasse ich jetzt mal aus, weil jede Person ja selbst heimische Baumarten googlen und sich informieren kann, welche Bäume man im heimischen Garten pflanzen darf und sollte – ist ja standort- und gemeindeabhängig. Besonders wichtig sind eben Obstbäume, da sowohl die Blüten, als auch die Früchte wichtige Nahrungsquellen für Insekten, Vögel und Co. sind. Und damit kommen wir auch schon zum nächsten Punkt: Den Tieren.

Lebensräume schaffen für Insekten, Vögel, Igel, Reptilien und Co.

Ich gärtnere nicht nur für mich und meinen Speiseplan, sondern auch, beziehungsweise fast schon hauptsächlich, weil ich Tieren Lebensraum anbieten will – vor allem in den Betonwüsten, die unsere Städte zu einem großen Teil häufig sind. So ein Agreement ist ein Win-Win: Die Tiere haben Nist- und Nahrungsplätze, dafür bestäuben sie meine Pflanzen und, noch viel wichtiger: Ich kann sie beobachten.

Nichts erdet mich mehr, als einer Assel dabei zuzuschauen, wie sie über Stock und Stein in meinem Hochbeet steigt und versucht herauszufinden, was bei ihr als nächstes auf dem Speiseplan steht.

“Ich erinnere mich, wie der Naturjournalist Chris Packham einmal sagte, er liege lieber zehn Minuten auf dem Bauch und beobachte iene Kellerassel, als sich eine Stunde lang eine Hochglanz-Doku über Löwen in der Serengeti anzusehen.” – Dave Goulson, Wildlife Gardening

Ich achte darauf, in jeder Kübelgruppe mehrere Unterschlupfe für Insekten einzubauen, sodass zusätzlich zur wilden Vegetation und über den Winter feste Schutzräume zur Verfügung stehen.

 

Eine Korkröhre in diesem Kübel bietet Asseln, Schnurfüßern und anderen Tieren einen sicheren wetterfesten Unterschlupf.

 

Trockenmauer, Reisighaufen und Co.: strukturierte Mini-Landschaften

Folgende Strukturen eignen sich sehr gut, um Tieren einen schönen, artgerechten Lebensraum zu bieten:

  • Reisig-/Totholzhaufen. Ja, der Klassiker. Das Schöne ist, den kann man im Garten in irgendeine Ecke verbannen, wenn man ihn nicht ansprechend findet, und stellt irgendwas davor. Es muss ja nicht gleich ein zwei Meter hohes Ungetüm sein, kniehoch und dicht reicht auch erst einmal. In Reisighaufen leben und überwintern Insekten, Reptilien, Amphibien, Igel, Vögel und Co. Im Winter bleibt es dort schön warm und muckelig drin. Und wenn man den von Brombeeren oder Wildrosen überwuchern lässt, sieht er auch noch super aus und schmeckt auch gut, je nachdem. Mehr Infos dazu gibt es bei der Wildvogelhilfe >>

  • Trockensteinmauern. Mein persönlicher Favorit. In den Ritzen können sich Moose, Farne, Blühpflanzen und Gräser ansiedeln, außerdem findet sich hier genug Platz für Insekten, Eidechsen, Häuschenschnecken und Co! Schöne Beispiele gibt es hier >>

  • Steinhaufen. Quasi Trockensteinmauern für Faule, funktioniert ähnlich wie oben. Angenehm für Tiere: Auch in Hitzesommern ist es in Steinhaufen angenehm kühl. Hier findet ihr ein paar mehr Infos >>

  • Benjeshecke. Diese besonderen Hecken werden aus Schnittgut und Holzpfählen gebaut und sind vom Prinzip her wie ein Reisighaufen, nur eben als Hecke. Man kann sie nach und nach auch begrünen, zum Beispiel Wildrosen oder rankende Beeren wie Brombeeren drüberwachsen lassen. Hier könnt ihr euch anschauen, wie so etwas funktioniert >>

  • Totholz. Wie ihr auf den Bildern gesehen habt, habe ich Totholzstämme herumstehen, die mit Pilzen beimpft sind und an denen ich Austernseitlinge ernte. Ich habe aber auch sonst überall Baumstücke und Totholz herumliegen, auch in den Beeten verteilt. Einiges davon habe ich angebohrt, um verschieden große Unterkünfte für Tiere zu schaffen.

  • Korkröhren. Manchmal sortiere ich aus meinen Terrarien Korkröhren aus, die nicht mehr benötigt werden. Die wandern dann in den Garten und bieten Insekten wetterfeste Unterschlupfe.

  • Tontöpfe. Was auch nett ist: hingelegte Blumentöpfe, die langsam überwuchert werden und ein bisschen in der Erde eingegraben sind. Die stecke ich auch gern zwischen die Pflanzen, um wetterfeste Unterstände und Bruthöhlen zu gestalten. Wenn mir ein Tontopf herunterfällt und zerbricht, baue ich aus den Scherben ebenfalls nette kleine Unterschlupfe. Braucht alles wenig Platz, klappt auch gut in kleinen Kübeln und ist dennoch sehr effektiv.

 

Meine Hündin Chloé in ihrer Lieblingsecke.

 

Bezugsadressen für gutes Saatgut und Pflanzen

Für einen naturnahen Garten ist natürlich gutes Saatgut wichtig. Im Gartencenter kriegt man eben nur “Standard”, und gerade alte, vergessene Gemüsesorten sind so spannend! (Reminder: Hier habe ich schon geschrieben, wieso ich die Saatgutmischungen aus Baumarkt und Co. nicht empfehlen kann >>)

Ganz ehrlich: Ich sammel das meiste Saatgut selbst. Sobald Löwenzahn und Co. ihre Samen abwerfen, bin ich zur Stelle. Habe bei jedem Spaziergang eine kleine Dose dabei, um bei Disteln, Gundermann, Knoblauchsrauke und Co. Samen einzusacken. Der Vorteil: Es ist kostenlos und ich habe DEFINITIV Pflanzen aus der Region, was natürlich ökologisch betrachtet und auf die lokale Biodiversität bezogen sehr sinnvoll ist.

Ich habe mich aber dieses Jahr auch ein bisschen durch diese sehr gute Liste vom NABU bestellt. Schaut mal >>

Besonders angetan hat es mir “Bio-Saatgut Gaby Krautkrämer”, weil sie dort ganz tolle Pflanzensamen anbieten, die man sonst nirgends kriegt, zum Beispiel diese alten Gemüsesorten >>

Und sonst so?

So. Es gibt noch so viel zu sagen, aber Themen wie pestizidfreies Vertreiben von ein bisschen ZU hungrigen Insekten und Schnecken und ähnliches kommt in einem anderen Artikel, sonst wird das hier ein Buch.

Ich hoffe, dass euch der Artikel ein bisschen Input zum Gärtnern gibt. Wie gesagt: Ihr braucht gar nicht viel Platz, keine teuren, krassen Geräte. Ein paar Kübel von Sperrmüll und eBay Kleinanzeigen, ein bisschen Sperrmüll als zusammengenagelte Rankhilfe und das Ding läuft, anders mach ich es auch nicht.

Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr noch mehr Tipps und Anregungen in die Kommentare postet. Bin immer auf der Suche nach neuen Idee, und wenn ihr welche habt: DRINGEND HER DAMIT! ❤️

 
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Jasmin Schreiber Jasmin Schreiber

Schreiben wie ein Mann.

(…) Das Beste, das ich damals getan habe, war aufzuhören zu schreiben, wie ein postpubertärer Mann. Das zweitbeste war, dass ich jenes Manuskript weggeworfen habe. Das drittbeste war, diese kleine “Fingerübung” fertigzuschreiben, weil diese sich mittlerweile weit über 100.000 Mal verkauft hat, in mehreren Sprachen. Ihr Name? Marianengraben. (…)

Als ich aufwuchs, war ich umgeben von Büchern, die von Männern geschrieben wurden – von klassischer Literatur bis hin zu aktuellen Bestsellern. Auch in der Schule lasen wir fast nur Männer. Die einzigen, die dagegen aufbegehrten, war eine neue Generation Lehrerinnen, die wir irgendwann hatten. Sie besorgten uns auf eigene Kosten Klassensätze von Büchern von Silke Scheuermann, gaben uns Kathrin Passig an die Hand, obwohl es vom Lehrplan abwich – den gerade junge Referendarinnen sehr streng befolgen mussten, um gut bewertet zu werden. In Buchläden lagen Bücher von Männern in den Auslagen, die Bestsellerlisten im SPIEGEL bestanden ebenfalls fast ausschließlich aus Büchern von Männern. Frauen schrieben meiner Wahrnehmung nach nur Kochbücher oder Ratgeber, oder eben schnulzige Liebesromane.

Mit sieben oder acht Jahren begann ich ernsthaft, eigene Geschichten zu schreiben – meist Fantasy oder Horror, oder irgendwas mit Tieren. Ich war überzeugt davon, eines Tages Schriftstellerin werden zu können. Doch irgendwann sickerte in meinen Kopf ein, dass ich ja auch irgendwann heiraten und Kinder kriegen “müsse” – egal, ob ich das wollte oder nicht – und dass das mit der Schriftstellerei dann schwer wird. Und überhaupt, konnten Männer nicht sowieso besser schreiben? Denn wieso sieht man überall nur Bücher von Männern?

Mit siebzehn oder achtzehn hatte mir schon so ziemlich jede:r meiner Deutschlehrer:innen nahegelegt, dass ich Dramaturgin oder Schriftstellerin werden solle, dass ich Dialoge schreiben müsse, dass ich Szenen aufs Papier und vielleicht auf die Bühne bringen solle, dass das meine Zukunft sei. Mein Selbstbewusstsein hatte da also zum Glück doch wieder an Fahrt aufgenommen und ich dachte, dass ich vielleicht schreiben könnte, obwohl ich eine Frau bin. Das Frausein war damals für mich wie ein Defekt, den es zu überwinden oder zumindest zu verbergen galt.

Als Konsequenz ließ ich mir jahrelang einflüstern, dass ich anders als die anderen Frauen sei, dass ich das alles so gut könne, weil ich wie ein Mann sei, wie ein Mann schriebe. Also jagte ich bis Mitte 20 dem frauenfeindlichen Märchen hinterher, “anders als die anderen Frauen” sein zu müssen, um etwas zu gelten.

Du bist anders, als die anderen Frauen

Ich bin froh, dass ich diese perfide Masche irgendwann durchschaut habe. Aber bis dahin versuchte ich, um Gottes Willen nicht wie die anderen Frauen zu sein, ohne zu reflektieren, was das bedeutete. Mit Mitte, Ende 20 begann ich, das endlich zu verstehen, weil diese Story nach und nach in der Öffentlichkeit kritisch hinterfragt wurde: Der Satz "du bist nicht wie andere Frauen" ist kein nettes Kompliment, sondern wie Gift, weil er impliziert, dass von der Gesellschaft als “weiblich” zugeordnete Attribute negativ sind, weil er die Unterdrückung dieser Teile unserer Persönlichkeit fördert und Frauen gegeneinander ausspielt.

Der Satz suggeriert, dass es etwas Positives ist, nicht wie “andere Frauen” zu sein, denn als weiblich zugeordnete Eigenschaften werden oft mit negativen Konnotationen in Verbindung gebracht, wie z. B. übermäßig sensibel, schwach, weinerlich, zu emotional, zu pingelig, zu gestresst, zu unentspannt, dramatisch oder “crazy” zu sein. Dieses Framing ermutigt Frauen (aber auch Männer!) dazu, diese Eigenschaften zu unterdrücken, um eben nicht so nervig und simpel wie “andere Frauen” zu sein. Denn wollen wir nicht alle etwas besonderes sein? Genau. Und wer definiert diese Besonderheit? Genau, Männer.

Dieser Vergleich zwischen Frauen ist unangemessen und spaltet uns. Er führt dazu, dass wir uns gegenseitig be- und abwerten und denken: "Ich bin besser als sie." Diese Art von Denken ist nicht nur ungesund, sondern hilft auch denen, die uns kontrollieren wollen. Die Gesellschaft hat uns darauf programmiert, in einen Raum voller Frauen zu betreten und uns zu fragen: "Bin ich hübscher als sie? Habe ich eine bessere Figur als sie? Oh Gott, ist sie klüger als ich? Bin ich erfolgreicher als sie?" So bleiben wir schön beschäftigt und können in der Zeit, in der wir vergleichen und uns selbst “oprimieren”, nicht hinterfragen, was wir hier gerade eigentlich machen.

Aussagen, die unterstellen, dass alle Frauen gleich sind, implizieren auch, dass wir Frauen eine homogene Gruppe bilden. Dieses Klischee spiegelt jedoch nicht die Realität der vielfältigen und einzigartigen Menschen wider, die die weibliche Bevölkerung ausmachen. Alle Frauen in meinem Leben sind total unterschiedlich und haben ihre eigenen, einzigartigen Persönlichkeiten, Wünsche, Träume und Gedanken. Wer sind also jene "anderen Frauen", denen wir nicht ähnlich sein sollen? Boy, ich bin genau so wie die anderen Frauen – und das ist fein. Ein Kompliment sollte sich auf die eigenen Qualitäten und Eigenschaften der Person beziehen, anstatt auf Vergleiche. Wenn dein Partner dir sagen will, dass du etwas Besonderes für ihn bist, sollte er einfach sagen: "Du bist etwas Besonderes für mich." Kommt er stattdessen mit “du bist anders als die anderen Frauen” oder erzählt von seiner “verrückten Ex” – sowas von red flags, röter geht kaum.

Aber was hat das jetzt mit meinem Schreiben zu tun?

Was Gynäkologisches

Nun, ich wollte natürlich auch nicht schreiben wie die anderen Frauen. Das ist eine steile Aussage für jemanden, der zu diesem Zeitpunkt seit 20 Jahren mit männlicher Literatur bombardiert wurde und kaum Frauen gelesen hatte. Also schrieb ich, um “gut” zu schreiben, wie ein Mann. Kostprobe gefällig? Gerne, aber halte deine Kotztüte bereit.

“Plötzlich änderte sich ihre ganze Körperhaltung, sie wurde offener, zugewandter. Ich dachte, dass sie eigentlich ganz süß aussieht, sie hatte so einen Leberfleck an der Schläfe, den ich die ganze Zeit anstarren musste und der sich bewegte, wenn sie sprach. Ich hänge mich oft an so Kleinigkeiten auf, das finde ich spannend, kleine Brüche in etwas, das man allgemein als Schönheit bezeichnet.” (…)

Jedenfalls stand da diese Frau neben mir und ich fragte mich, ob sie ihr Muttermal hasste, ob sie noch mehr Muttermale am Körper hatte, die würde ich gern mal sehen, die Muttermale. Sie war Agentin, erzählte sie mir, und ob ich bei Emins Verlag unter Vertrag sei. (…) Dann fing sie an, von ihrer Agentur zu sprechen, erzählte mir, wer da schon alles unter Vertrag sei (ich kannte keinen der Namen) dies das. Hölzern spulte sie all das ab; wie ein lieblos einstudiertes Programm. In meinen Augen wurde sie dadurch irgendwie doch hässlich, (…) es war einfach so unsympathisch.

Als ich das schrieb, war ich 25 und eine komplette Vollidiotin. Wenn ich das lese, will ich mir nur vor Scham die Augen auskratzen oder die Haut vom Gesicht reißen, es ist kaum auszuhalten. Und das hier zu posten ist eine unglaubliche Überwindung und ich bete, dass mich jetzt nicht alle hassen. Ich meine ernsthaft. WIE SCHLECHT IST DAS?!

Aber ich dachte damals: “Okay, so denken Männer, und wenn ich einen Mann als Protagonisten habe, muss ich so schreiben – so cool und abgeklärt und unnahbar und hart.” Und ich dachte es sei cool oder “schick”, gezielt einen Protagonisten zu schreiben, der nicht likeable und irgendwie toxisch ist. Das wäre genau der Typ, der dir sagt, dass du nicht “wie die anderen Frauen” seist und der auf seinem Tinderprofil Fotos von sich und Kindern in Afrika hat. Mein Gott, mich schüttelt es noch heute.

Jetzt gerade blicke ich auf diesen Textausschnitt und frage mich, was für ein Hirnwurm da in mir lebte, dass ich sowas schrieb. Ich arbeitete damals mit einer anderen großen Agentur zusammen, und der Agent (ja, ein Mann), meinte zu mir, dass der Stil perfekt und glaubwürdig so sei. Ich schrieb das ganze Buch und habe es gehasst. Je mehr ich schrieb, umso mehr wuchs die Scham in mir und ich dachte: Das soll gut sein? Das ist doch scheiße, das klingt scheiße, wieso soll ich das so machen, wieso, wieso, wieso? Aber wer war ich schon? Ein erfahrener Mann aus der Literaturbranche sagte mir, dass das so muss, und ich war doch nur eine Biologin, was wusste ich über Literatur? Aber ich konnte irgendwann nicht mehr. Ich hasste meinen Text so unglaublich. Das klang alles nicht nach mir, mich interessierten die Themen nicht, ich schrieb das nur getrieben von der Angst, von der Literaturbranche als “Frauenliteratur” eingestuft zu werden. Und “Frauenliteratur” war doch was Schlechtes, oder?

Ich habe nur noch Fragmente dieses literarischen Verbrechens, aber die hebe ich auf wie ein Mahnmal, damit ich auf keinen Fall jemals wieder dazu zurückkehre. Neben dieser Katastrophe von Text schrieb ich nämlich heimlich etwas anderes, eine Geschichte mit dem Arbeitstitel “Helmut”. Nur so, nur für mich. In meiner eigentlichen Sprache, so, wie ich eigentlich war und dachte. Ich schickte das meiner Freundin Gina Schad, ebenfalls Autorin, die zu mir sagte: “Jasmin, das ist das Beste, das du je geschrieben hast.” Ich habe das weggelacht, weil ich dachte, dass sie Unsinn redet. Dass es zu weich sei, zu wenig literarisch, gar nicht wie Männer schreiben. Was würde Marcel Reich-Ranicki dazu sagen, hätte er noch gelebt? Er hätte vermutlich gedacht, dass ich bewusstlos war und der Text derweil allein von meiner Gebärmutter geschrieben worden war, da bin ich mir sicher.

Man darf auch nicht sagen, Frauen können keine Romane schreiben. (…) Frauen können Novellen schreiben, wunderbar, Frauen können Gedichte schreiben. Fragen Sie mich nicht, warum! Fragen Sie Gynäkologen!

(Marcel Reich-Ranicki)

Das Beste, das ich damals getan habe, war aufzuhören zu schreiben, wie ein postpubertärer Mann. Das zweitbeste war, dass ich jenes Manuskript weggeworfen habe. Das drittbeste war, diese kleine “Fingerübung” fertigzuschreiben, weil diese sich mittlerweile weit über 100.000 Mal verkauft hat, in mehreren Sprachen, und sie wird verfilmt. Ihr Name? Marianengraben.

Ich lese keine Männer mehr

Das nächste, an dem ich arbeiten musste, war mein Leseverhalten. Ich hatte und habe immer noch Jahrzehnte aufzuholen, in denen ich kaum Literatur von Frauen konsumiert habe. Ich lese noch ab und zu Bücher von Männern, Ausnahmen bestätigen schließlich die Regel, aber ich lese seit drei oder vier Jahren zu 90 Prozent Bücher von Frauen – ich muss schließlich aufholen. Am meisten Genuss bereiten mir die Gesamtwerke von Marlen Haushofer, Joyce Carol Oates, Toni Morrison, Margaret Atwood, Shirley Jackson, Virginia Woolf. Wie habe ich je ohne die Bücher von T. Kingfisher, Christina Henry, Tsitsi Dangarembga, Nicole Seifert, Cornelia Achenbach oder Judith Holofernes leben können? Ist mir schleierhaft.

All jene Bücher mit ihren männlichen Perspektiven und Erfahrungen bildeten viel zu lange die Grundlage für mein Verständnis der Welt und dafür, wie ich über sie schreiben sollte. Infolgedessen wurde mein Schreiben viel zu lang vom sogenannten male gaze geleitet, einem Begriff, den die feministische Filmkritikerin Laura Mulvey 1975 in ihrem Essay "Visual Pleasure and Narrative Cinema" geprägt hat. “Male gaze” sich dabei auf die Art und Weise, wie Männer die Welt sehen und interpretieren, und auf die Tendenz, Frauen als passive Objekte der Begierde darzustellen.

Mir wurde bald klar, dass ich mit diesem Kampf nicht allein war. Viele Schriftstellerinnen standen vor der gleichen Herausforderung, den von klein auf eingetrichterten männlichen Blick auf die Welt zu verlernen und ihre eigene Perspektive auf die Dinge zurückzuerobern. Aber das Problem ging tiefer. Das Patriarchat, ein soziales und kulturelles System, das die Erfahrungen und Perspektiven von (meist heterosexuellen) Männern in den Vordergrund stellt, durchdringt alle Sphären, auch die literarische Welt, und führt zu einem Mangel an weiblichen (und queeren!) Stimmen und Erfahrungen in der Literatur. Frauengeschichten und -perspektiven wurden oft als weniger wichtig angesehen und als "häuslich" oder "privat" abgetan, anstatt einer öffentlichen Wahrnehmung und Anerkennung würdig zu sein. Shirley Jackson könnte uns ein Lied davon singen, wäre sie noch am Leben. Oder Marlen Haushofer.

Scheiß auf den Kanon

Als ich anfing, ernsthaft zu schreiben, musste ich mir diese einschränkenden Überzeugungen und Annahmen aktiv abgewöhnen. Ich musste mich von der Vorstellung verabschieden, dass nur die Erfahrungen und Perspektiven von Männern zählen und dass die Erfahrungen von Frauen es nicht wert sind, dass man über sie schreibt. Dass “Weichheit” etwas sei, für das ich mich schämen müsse, oder körperliche weibliche Erfahrungen und Wahrnehmungen. Ich musste meine eigene Stimme und Perspektive zurückgewinnen, auch wenn sie sich vielleicht hier und da von dem unterscheidet, was in der Literatur traditionell geschätzt wird. Ich sag nur: Kanon. Aber scheiß auf den Kanon, ganz ehrlich.

Es war ein langer und schwieriger Weg, aber ich habe gelernt, meine eigene Stimme und Perspektive zu finden, indem ich weiter schrieb und nach Autorinnen suchte, die ihre eigenen Geschichten auf ihre eigene weibliche Art erzählten. Ich habe gelernt, über Themen zu schreiben, die mir wichtig sind, und Frauen aus einer weiblichen Perspektive zu beschreiben, anstatt sie durch die Brille des male gaze zu betrachten.

Es ist immer noch nicht einfach. Lange verbot ich mir beispielsweise, Liebesgeschichten zu schreiben, um nicht in eine Klischeeecke zu rutschen, aus der man heutzutage als Autorin immer noch nur schwer wieder rauskommt. Aber nach und nach streife ich diese Erwartungshaltungen an mich selber ab, diese internalisierten Verbote, was sich ziemt und was nicht, was ernsthafte Literatur sein darf und was nicht. Und deshalb übersetze ich mittlerweile die Fantasy- und Horrorautorin T. Kingfisher (Ursula Vernon), weil ich sie unglaublich bewundere für das, was und wie sie schreibt. Und vielleicht veröffentliche ich auch irgendwann einmal diesen Folk Horror Roman, der seit Jahren in meiner Schublade schläft. Nicht, obwohl ich eine Frau bin, sondern weil ich eine bin.


Quellen

http://elfriedejelinek.com/andremuller/marcel%20reich-ranicki.html

https://www.amherst.edu/system/files/media/1021/Laura%2520Mulvey,%2520Visual%2520Pleasure.pdf

Literaturtipps

Nicole Seifert – Frauen Literatur

Hiltrud Gnüg (Hrsg.) & Renate Möhrmann (Hrsg.) – Frauen Literatur Geschichte

Ilka Piepgras (Hrsg.) – Schreibtisch mit Aussicht

Virginia Woolf – A Room Of One’s Own / Ein Zimmer für sich allein

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Jasmin Schreiber Jasmin Schreiber

Die alternde Frau

Uns Frauen haftet immer und überall das Körperliche an. Egal, was wir machen, alle Gedanken, die wir formen und die sich in Wissenschaft ergießen oder in Kunst oder Literatur, stammen aus einem Kopf, an dem nun einmal ein irgendwie gearteter Körper hängt. (…)

Vor Kurzem habe ich “Das Leben keiner Frau” von Caroline Rosales beendet, ein sehr starkes Buch über Frauen, die in einer jugendbesessenen Gesellschaft keinen richtigen Platz mehr finden und ab 50 häufig irgendwie aufs Abstellgleis geraten, gleichzeitig der nach Fehlern suchenden Lupe dennoch nicht entrinnen können.

Schlechte Mutter, schlechte Tochter, schlechte Feministin. Zu dünn, um gesund zu sein. Zu ungesund, um als Vorbild zu taugen. Keine Geliebte, keine Ehefrau, keine Freundin. Ich bin als gar keine Frau gut.

Die Lektüre war schmerzhaft, hat aber auch gutgetan, denn lange schon lese ich keine Literatur mehr über junge Frauen in Großstädten, die irgendwie ihr Leben zwischen Job und Liebeskummer meistern. Wieso? Weil ich selbst eine junge Frau in einer Großstadt bin. Es langweilt mich ja schon stellenweise, ich selbst zu sein - das muss ich dann wirklich nicht noch in Geschichten lesen. Es ödet mich an. Ich will mehr Frauen jenseits der 30 oder 40 in Kinofilmen sehen, in Netflix-Serien, in Theaterstücken, und ich will von ihnen in aktuellen Romanen lesen. Ich möchte, dass sie dort nicht nur als Mütter oder liebenswürdige Großmütter eine Rolle besetzen, sondern, dass die komplette Vielfalt eines Frauenlebens abgebildet wird. Und dass die Schauspielerinnen, die das machen, anständig bezahlt werden.

Denn diese Einseitigkeit der Darstellung auf Leinwand und Co. hat natürlich auch ökonomische Konsequenzen für uns Frauen, klar. Während ein höheres Alter als neununddreißig Männer auf der Leinwand nicht als Sexualpartner oder in der Rolle eines stürmischen Liebesabenteuers disqualifiziert, steigt das Gehalt von Hollywoodschauspielerinnen an, bis sie ungefähr 34 sind. Danach fällt es rapide ab, während das der Männer kontinuierlich bis zu ihrem 51. Lebensjahr weitersteigt und sich dann recht weit oben stabilisiert.

Clint Eastwood? Charakterschauspieler! Ja, der Mann ist 91, aber das heißt nicht, dass man ihn nicht noch als “Sexsymbol” feiern kann! Man spricht bei alternden Männern von “reifen”, von “den besten Jahren”, ihre zerfurchten Gesichter sind “Charaktergesichter”. Dabei altern Männer nicht stärker oder anders als wir Frauen, der einzige Unterschied liegt darin, dass wir ihnen gestatten, zu altern, während uns Frauen dasselbe Recht nicht eingeräumt wird.

Wenn ein Mann über 60 noch einmal mit einer jüngeren Partnerin Vater wird, schmunzeln wir und denken uns: Na, gut für ihn. Wenn eine Frau mit Mitte 40 oder gar über 50 noch ein Kind bekommt, verbreiten sich alle möglichen Menschen darüber, ob das in dem Alter denn wirklich noch sein müsse, es gebe schon einen Grund, wieso Frauen recht früh ihre Fruchtbarkeit verlieren, Mensch, das arme Kind, so eine alte Mutter, herrje.

2015 protestierte die amerikanische Schauspielerin Maggie Gyllenhaal dagegen, für eine Rolle als Liebhaberin eines Mannes abgelehnt worden zu sein. Der Grund? Sie sei zu alt. Ihr Alter damals: 37. Das des Mannes: 55. Das und ein Blick in die Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, auf dem die Geschichte “alter, gebildeter Mann kriegt Krise, verliebt sich in jüngere Frau, und dann wird zwischen Einlassungen zu Platon und Bauhaus-Architektur auch mal ordentlich gevögelt” hoch und runter erzählt wird, zeigt, dass die Geschichten, die wir konsumieren, hauptsächlich aus Männerköpfen stammen. Dass sich Autoren, Regisseure und Drehbuchschreiber damit gegenseitig immer wieder versichern, dass es absolut realistisch ist, dass Frauen in meinem Alter erst so richtig auf Männer stehen, wenn sie ihre Haare verlieren, anfangen, etwas strenger zu riechen und mit dem Smartphone nur noch so mittelgut zurechtkommen. Diese Fantasie, dass wir, die naiven, leeren Gefäße, von ihrem Wissen (und Sperma, machen wir uns nichts vor) gefüllt werden wollen. Keine Angst, doch, doch, Joachim, das ist so, bitte schreibe die achthundertste Version der Geschichte, sie ist so aktuell wie nie.

Uns Frauen haftet immer und überall das Körperliche an. Egal, was wir machen, alle Gedanken, die wir formen und die sich in Wissenschaft ergießen oder in Kunst oder Literatur, stammen aus einem Kopf, an dem nun einmal ein irgendwie gearteter Körper hängt. Und so konnten sich auch nur wenige Redakteure beim Erscheinen von “Marianengraben” oder auch bei meinen anderen Büchern zurückhalten, im Text darauf zu verweisen, dass ich eine junge Frau sei. Dass ja momentan Literatur junger Frauen angesagt sei, dass es sicher nicht auch hinderlich sei, dass ich “attraktiv” und auf Social Media aktiv sei, wo man mich dann auch bestaunen, mein Äußeres konsumieren kann. Die junge Autorin. Die junge Frau mit den dunklen Locken. Jung. Jung, jung.

Auf der Buchmesse äußerte sich ein Redakteur enttäuscht darüber, dass ich ja “ganz anders” als beim letzten Interview aussehe, das wir miteinander geführt hatten. Ja, das war seine Einstiegsbegrüßung. Spannend, dass er sich traut, mir sowas einfach ins Gesicht zu sagen, aber bei einer Frau kann man das schon mal machen. Was er meinte: Erschöpft, weil lange Phase der schweren Depression hinter mir, 12 Kilo schwerer, weil, wie gesagt, lange Phase der schweren Depression und Pandemie hinter mir, ungestyled, weil die ganze Welt gerade brennt und mir ehrlich gesagt scheißegal ist, ob man meine Augenringe, Falten und spröden Haare sieht, oder nicht. Ich habe in der Pandemie drei Bücher rausgebracht, dabei als Risikogruppe diese verdammte Seuche bisher unbeschadet durchgestanden, eine schwere Depression überlebt, knie nieder und zeig dich beeindruckt, verdammt nochmal, und scheiß auf meine Frisur oder mein Doppelkinn.

Ihm war es aber nicht egal. Er hat das Interview durchgehuscht, es ist nie erschienen, stattdessen hat er ein spontanes Interview mit einer anderen Autorin gebracht, die 10 Jahre jünger, sehr strahlend war und auch, im Gegensatz zu mir, angemessene Dankbarkeit gezeigt hatte für die Chance, auf der Kulturseite in einer kleinen Ecke über 8 Zeilen zu erscheinen, darüber ein großes Bild von ihr. Prioritäten, eben. (Sie hat übrigens ein fantastisches Buch geschrieben, das in dem Text eine Randnotiz war. Das Thema stattdessen: So jung und schon ein Buch! Ich wette, sie hat innerlich gekotzt.)

Das Ding ist: Ich werde nächsten Monat 34 und merke schon die Verschleißerscheinungen im Kulturbetrieb, in dem ich erst kurz dabei bin; was komplett absurd ist bei einer theoretischen Lebenserwartung von über 80. Einerseits bin ich eine junge Autorin, andererseits eine Spätzünderin, und langsam werde ich ja auch ein wenig faltig und so, schwierig. Schrödingers Schriftstellerin, ich weiß gar nicht, wo ich mich jetzt einordnen sollte. Zu jung, um ernstgenommen zu werden, in 5-6 Jahren zu alt, um naiv-sexy zu sein. Doch ich finde das Älterwerden toll, will gar nicht jünger sein, denn das Lustige ist:

Mit Anfang 20 war ich eine Idiotin, ganz ehrlich.

Ich bin so dermaßen froh, damals nichts veröffentlicht zu haben oder in der Öffentlichkeit gestanden zu haben. Ich dachte, wir Frauen seien gleichberechtigt und meine Schreibversuche damals drehten sich um das Leben als junge Frau in der Großstadt, gefangen zwischen Job, Studium und Liebeskummer. (Sollte ich jemals einen Berlinroman rausbringen, holt Hilfe.) Allerdings war ich sehr dünn, vielleicht wären die Redakteure dennoch begeistert gewesen.

Was ich mit diesem langen, etwas chaotischen Gedankenfluss sagen will:

Ich halte diese Standardgeschichten nicht mehr aus. Ich kann kaum noch Kinofilme schauen, denn egal, um welches Thema es eigentlich geht: Es muss unbedingt irgendwie eine Lovestory rein. Der Betrieb behauptet, das sei wegen uns Frauen, das kaufe ich ihm aber nicht ab. Denn wir Frauen würden, wenn es denn sein muss, auch eine Lovestory zwei Achtzigjähriger schauen - abgesehen davon, dass wir durchaus in der Lage sind, Themen zu folgen, ohne, dass sich jemand verliebt. Aber bei der Lovestory, die natürlich heterosexuell ist (klar), muss auf jeden Fall eine Frau unter 32 dabei sein, Alter des Mannes: egal. Und ich kann das nicht mehr sehen. Ich kann es auch nicht mehr lesen, deshalb lese ich momentan fast nur Literatur von Frauen, und auch nur solche, in der es nicht um klischeehafte Liebesbeziehungen geht, die uns vom Patriarchat beigebracht wurden.

Zeigt mir Frauen, die 60 sind und ein blühendes Sexualleben zwischen Hängebusen und Scheidentrockenheit führen, zeigt mir Frauen, die mit Mitte 50 in der Karriere richtig durchstarten, zeigt mir Frauen, von denen ich etwas für mein Leben als Frau lernen kann, und nicht solche, die mir nur die Fantasie heterosexueller, meist weißer Männer spiegeln.

Danke sehr.

Foto: Johnny Cohen für Unsplash

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