Die tote Frau als Unterhaltung

Ophelia , von John Everett Millais, 1851–1852

Ophelia, von John Everett Millais, 1851–1852

Während ich meinen Roman über Femizide geschrieben habe, hat mein Nachbar seine Frau getötet. Mitbekommen habe ich es nicht, da mein Mann und ich da noch in Dänemark waren und erst einen Tag später zurückgekommen sind. Realisiert, dass was passiert ist, haben wir es ein oder zwei Tage später, als in der ganzen Siedlung Plakate aufgetaucht sind, die über Femizide aufgeklärt haben, und dann haben wir es auch in den Nachrichten gesehen. Es war der erste registrierte Femizid in diesem Jahr.

Ich hatte mein Manuskript da eigentlich schon sehr weit vorangetrieben, habe es mir dann aber noch einmal vorgenommen, alles aufgerissen und all die Wut hineinfließen lassen, die ich da gespürt habe. Das Buch wurde dadurch viel radikaler und härter, als ich eigentlich gedacht hatte, doch all das musste raus. Ich hab beim Schreiben vor Zorn gekocht, ich hab geheult, ich hab die Zähne zusammengebissen, den Rotz hochgezogen und weitergetippt, mir war da alles egal. Rausgekommen ist mein bisher härtestes Buch.

Ich wollte mich schon lange dem Thema literarisch nähern, hatte aber keine Perspektive gefunden, die sich richtig anfühlte. Nicht die ausgelutschten Stories von Männern nacherzählen, keinen Krimi, keinen Thriller. Für „Da, wo ich dich sehen kann" habe ich deshalb eine Perspektive gewählt, die selten vorkommt: die der Hinterbliebenen. Kein voyeuristisches Ausschlachten der Tat, kein Ermittler, kein Täter im Zentrum. Majas Geschichte, Livs Geschichte, Brigittes und Pers Geschichte, von ihnen selber erzählt. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht, oder? Denn wer erzählt eigentlich die Geschichten dieser toten Frauen? Wer kuratiert unsere Erinnerung an sie? Literatur, Film und Kunst geben uns da seit Jahrhunderten eine Antwort, die so eindeutig ist, dass es wehtut.

“(…) the death, then, of a beautiful woman is, unquestionably, the most poetical topic in the world — and equally is it beyond doubt that the lips best suited for such topic are those of a bereaved lover.” – Edgar Allan Poe

„Der Tod einer schönen Frau ist demnach ohne jeden Zweifel das poetischste Thema der Welt, und ebenso steht außer Zweifel, dass die Lippen, die sich für ein solches Thema am besten eignen, die eines trauernden Liebenden sind.“

So schreibt Edgar Allan Poe (1809-1849) im Jahr 1846. Der weibliche Tod dient hier als ästhetischer Rohstoff, als poetisches Futter. Und die passende Stimme, um ihn zu veredeln? Gehört selbstverständlich einem Mann. Damit liegt das Grundmuster auf dem Tisch, es hält sich wacker, über Jahrzehnte, Jahrhunderte, ach, über Jahrtausende. Ob in Kunst, Pop, auf der Bühne, im Krimi oder im Podcast: Die tote Frau liefert. Sie liefert Bedeutung, sie liefert Gravitas, sie liefert Spannung und am Ende noch eine Moral. Sie ist der Startschuss für die Entwicklung anderer Figuren, und die sind – Überraschung! – in der Regel männlich.

Poes Zitat offenbart einen allgemeinen Bauplan männlicher Literatur. Er verteilt die Rollen klar: Ihr Tod produziert Sinn, seine Stimme verwaltet und veredelt diesen Sinn. Das zieht sich durch unsere gesamte Kulturgeschichte. Diese Haltung ignoriert Genregrenzen und Epochen, sie durchzieht die Oper, die Malerei, den Film, die Popmusik und heute eben unsere Streaming-Playlists. Der Tod der Frau markiert einen Wendepunkt, eine Erkenntnis. Die Geschichte beginnt oft erst dort, wo sie endet. Sie bleibt zurück, muss ja auch gar nicht mit, denn um sie ging es ja nie wirklich.

Das Leid von Frauen als spannender Plotpoint

“Das Martyrium von Frauen ist einfach nur Stoff für spannende Wendungen, erst jetzt hat Liv begriffen, wie tief das alles geht, wie selbstverständlich weibliches Leid zu Unterhaltung und zur Kulisse wird, besonders gern zur Bühne für die Entwicklung männlicher Figuren. Eine Frau wird vergewaltigt: Der Ermittler wird wütend, kriegt Tiefe. Eine Tochter verschwindet: Der Vater erkennt endlich, was ihm wirklich wichtig ist. Eine Ehefrau wird ermordet: Der Held hat jetzt einen Grund, sich zu rächen. Es geht nie um sie, es geht nie um die Frau. Es geht um seine Geschichte, um die des Mörders oder des Helden.” – “Da, wo ich dich sehen kann”, S. 252/253

Das Leid von Frauen gilt seit jeher als gute Unterhaltung. Dieser Story-Bauplan ist älter als Poe, Jahrtausende älter; als Frau, die auf ein humanistisches Gymnasium gegangen ist und deren erste Fremdsprache ab der 5. Klasse Latein war, weiß ich, wovon ich rede. Die Idee, das Martyrium von Frauen als Plotpoint zu nutzen, reicht zurück bis in die Antike. Schüler:innen meiner Schule begegnem dieser Idee oft zum ersten Mal in den Metamorphosen des Ovid (43 v. Chr.-17 n. Chr.), vollendet im Jahr 8 n. Chr. und von mir zum ersten Mal im Lateinunterricht gelesen, als ich 14 war. In diesem Werk versammelt der römische Dichter etwa fünfzig Vergewaltigungsszenen. Die klassische Philologin Amy Richlin zeichnet das alles in ihrem Aufsatz Reading Ovid’s Rapes (1992) nach, zeigt auf, wie diese Texte funktionieren: Sie weiden sich an der Angst und der Flucht der Opfer, machen daraus ein ästhetisches Schauspiel, gern auch mit einer Prise Humor gewürzt.

Pietro del Pollaiuolo: Apoll und Daphne (1470–1480)

Der Plot bei der Daphne-Geschichte geht so: Die Nymphe Daphne ringt ihrem Vater das Versprechen ab, ewig Jungfrau bleiben zu dürfen und niemals heiraten zu müssen. Der Vater stimmt zu, doch dann erscheint der Gott Apollon (auch Phoebus genannt), der sich kurz zuvor über Amor (Eros) lustig gemacht hatte. Zur Strafe schoss dieser auf Apollon einen Liebespfeil und auf Daphne einen mit Blei. So entbrennt Apollon in unsterblicher Liebe zu Daphne, während sie durch den bleiernen Pfeil nur Widerwillen empfindet und damit zwischen die Fronten zweier Götter gerät. Sie wird zum Opfer eines männlichen Ego-Wettkampfs, mit dem sie eigentlich nichts am Hut hatte. Apollon verfolgt sie nun unermüdlich, weil er mit ihr schlafen will, egal, ob sie will oder nicht.

„Er wollte noch mehr sagen, doch die Tochter des Penëus entfloh ihm in angstvollem Lauf, ließ ihn hinter sich und mit ihm seine Rede, mit der er noch nicht zu Ende war. Auch in diesem Augenblick sah sie reizend aus. Windstöße entblößten ihren Körper, der entgegenkommende Luftzug ließ die Kleider, auf die er traf, flattern, ein leichtes Lüftchen ließ das Haar nach hinten wehen, und die Schönheit steigerte sich durch die Flucht.“ – Ovid: Metamorphosen

Daphne wird vom Gott Apollon gnadenlos verfolgt, bis sie schließlich zu ihrem Vater flieht und ihn anfleht, sie in eine Gestalt zu verwandeln, die Apollon nicht mehr begehren kann. Daraufhin verwandelt er seine Tochter in einen Lorbeerbaum. Doch selbst dann findet sie keine Ruhe:

„Auch so liebt Phoebus sie noch. Er legt die rechte Hand an den Stamm und fühlt noch, wie die Brust unter der frischen Rinde bebt, umschlingt mit den Armen die Äste, als wären es Glieder, küßt das Holz – doch das Holz weicht den Küssen aus. Zu ihr sprach der Gott: »Da du nicht meine Gemahlin sein kannst, wirst du wenigstens mein Baum sein. Stets werden mein Haupthaar, mein Saitenspiel, mein Köcher dich tragen, Lorbeer!« “

Wir sehen also: Er hat gewonnen. Daphne verliert ihren Körper, ihre Autonomie, ihre Stimme, ihr ganzes Sein, und nicht einmal als Baum hast du deine Ruhe vor so nem Typen. Daphne kann sich auch da seinem Zugriff nicht entziehen. Sie gehört ihm, Apollon, wird zum Requisit in seiner Heldengeschichte degradiert, zum Accessoire für sein Haupthaar. Und das alles beschreibt Ovid in einer Art und Weise, die humoristisch sein soll.

An unserem Gymnasium hatte unsere Theater-AG das sogar für die Bühne aufgeführt. Die Verfolgungszene von Apollon und Daphne wurde dabei in humorvollen Slapstick umgedeutet, das ganze Stück als tragische “Liebesgeschichte” aufgeführt. Die Beinahe-Vergewaltigung als Liebeskomödie, wir lachen alle (nicht). Ich werde da unweigerlich an so manche Trope von Dark Romance erinnert, ein Genre, mit dem ich ein wenig auf Kriegsfuß stehe. Nicht mit den Leser:innen, lest, was ihr wollt, sondern mit manchen Geschichten, die dort erzählt werden. Aber das ist vielleicht etwas für einen anderen Text.

Apollo und Daphne, John William Waterhouse (1908)

Wenn einem nichts mehr einfällt, kann man immer noch eine Frau töten

In der Dramaturgie vieler Drehbücher und Romane fungiert der weibliche Körper als bloßes Schmiermittel im Getriebe, das eine ins Stocken geratene Handlung wieder in Gang bringt. Wir kennen diesen Mechanismus zur Genüge: Die Geschichte dümpelt vor sich hin, die Spannung hängt durch, dem Thrillerautor fehlen die Ideen … Zeit, eine Frau zu vergewaltigen oder zu töten! Der Tod dient als Schockmoment, als Adrenalinspritze für das Publikum, als rein technischer Hebel, um das Tempo anzuziehen, wenn die Story ein wenig lahm wird. Die amerikanische Comic-Autorin Gail Simone prägte für dieses Phänomen 1999 den Begriff „Women in Refrigerators“. Sie analysierte, wie oft weibliche Comic-Figuren verletzt, vergewaltigt oder ermordet werden, einzig und allein zu dem Zweck, den männlichen Helden zu motivieren. Die Frau landet sprichwörtlich oder metaphorisch als Tote im Kühlschrank, damit der Mann einen Grund hat, seine Reise anzutreten. Es gibt dafür sogar eine Webseite:

“Not every woman in comics has been killed, raped, depowered, crippled, turned evil, maimed, tortured, contracted a disease or had other life-derailing tragedies befall her, but given the following list (originally compiled by Gail, with later additions and changes), it's hard to think up exceptions:”

Screenshot der Webseite (17.12.2025)

Als Frau in einem Comic aufzutauchen kann bisweilen ganz schön gefährlich sein, aber auch sonst ist es generell besser, ein Mann zu sein. Denn betrachten wir unsere restlich Unterhaltungslandschaft, zeigt sich diese Mechanik in ihrer ganzen Stumpfheit quer durch alle Medien und Genres, doch vor allem im Krimi- und Thrillergenre blühen diese Tropen auf.

Der weibliche Leichnam markiert hier den Startschuss. Er liegt blass und drapiert am Seeufer oder im Unterholz, doch das Interesse der Kamera, das Interesse des Textes, wendet sich augenblicklich ab von ihr und hin zu ihm: dem Ermittler. Endlich, ein Mann! Ihr blutiges Ende? Ja Dings, egal, das ist lediglich sein neuer Fall. An ihrem toten Körper beweist er seine Genialität, seine Zähigkeit, seine emotionale Tiefe! Mein Gott, zum Glück ist sie tot, woher sollten wir das denn sonst alles wissen? War sie vor ihrem Tod eine komplexe Persönlichkeit mit Träumen und Ängsten? Irrelevant. Jetzt ist sie ein Puzzle, das er lösen muss. Er. ER! Ihr Verstummen ermöglicht ihm erst das Sprechen und Handeln, die Gewalt gegen sie dient als Katalysator für seine Heldenreise, sie ist der Treibstoff für seinen Motor.

Diese funktionale Kälte verbindet sich oft nahtlos mit der bereits bei Poe diagnostizierten Ästhetisierung. Der Horror weicht einer morbiden Romantik, die den Tod der Frau in ein Kunstwerk verwandelt. Kaum jemand hat diese Tradition so poppig und zugleich unheimlich auf den Punkt gebracht wie Nick Cave in seinem Duett mit Kylie Minogue. In der „Murder Ballad“ (jupp, das ist ein offizieller Begriff) Where the Wild Roses Grow (1995) singt Cave aus der Perspektive des Mörders, Minogue aus der des Opfers. Das Video zeigt die Sängerin als eine Art Ophelia, treibend im Wasser, wunderschön, unversehrt bis auf den tödlichen Schlag, umrahmt von wilden Rosen. Ich hatte als Teenager tatsächlich die Maxi-CD. „All beauty must die“ – alle Schönheit muss sterben, flüsterte der Song in mein Teenagerohr(, während ich, I kid you not, Edgar Allan Poe las). Elisa Day, so der Name der Figur im Song, stirbt, damit sie für immer so schön bleiben kann, wie der Mörder sie in diesem einen Augenblick sieht. Wieder ein Fall von “tragischer Liebe”. Auch bei häuslicher Gewalt und Femiziden übrigens eine gern genutzte Rechfertigung: Er hat sie halt zu sehr geliebt, ihre Schönheit hat ihn dazu getrieben, bla bla bla, kennen wir alles.

Das Musikvideo zu “Where the wild roses grow”. Nick Cave kniet als der Mörder über Kylie Minogue, die das Opfer spielt. Er hält den Stein in der Hand, mit der er sie dann erschlägt. https://www.youtube.com/watch?v=lDpnjE1LUvE

Und sonst so? Nun, wenn ich heute Netflix oder andere Streamingdienste öffne, schau ich direkt in die Augen von Serienmördern, es ist nicht mehr witzig. Fünf, sechs Kacheln auf der Startseite bewerben „Dahmer“, „Gacy“ oder diese gottlose Ted Bundy Doku, in der er stundenlang reden kann. Das True-Crime-Genre boomt und hat sich längst zu einer gigantischen Content-Maschine entwickelt. Dabei fällt eine eklatante Schieflage auf: Die Täter bekommen den Raum, die Zeit und die Stimme, die Frauen haben bittesehr das Maul zu halten, hier geht es gerade um Unterhaltung, also pscht, die Erwachsenen reden jetzt!

In der Dokumentarserie Conversations with a Killer: The Ted Bundy Tapes (2019) hören wir den Mörder stundenlang vor sich hin monologisieren. Er darf seine Sicht der Dinge darlegen, seine Psyche ausbreiten, sich selbst inszenieren, und Moment, sieht er nicht ein bisschen cute aus? So ein ganz bisschen? Hm? Die Frauen, die er bestialisch ermordet hat, bleiben bei all dem Statistinnen in der Show ihres Mörders. Sie werden zu Namen auf Listen, zu Fotos in Akten, während er zur faszinierenden Hauptfigur avanciert. Wir konsumieren sein „Werk“, analysieren seine Kindheit, bestaunen seine Intelligenz oder seine Banalität. Die Kamera liebt das Monster. Das Leid der Frauen hingegen verkommt zum narrativen Unterbau, zur Kulisse für die große One-Man-Show des Täters. Es ist die ultimative Konsequenz der Objektifizierung: Selbst im eigenen Tod gehört die Bühne dem Mann, der ihn verursacht hat. Als Frau interessieren sie sich nicht einmal für dich, wenn du tot vor ihnen liegst. Alle steigen drüber und überschlagen sich dabei, dem Täter ein Mikrofon ins Gesicht zu halten.

Die Autorin Alice Bolin vertieft diese Analyse in ihrem Essayband Dead Girls: Essays on Surviving an American Obsession (2018). Sie beschreibt, wie der tote Mädchenkörper in der amerikanischen Populärkultur zum Standardrequisit geworden ist, von Twin Peaks bis True Detective. Die Leiche der jungen Frau eröffnet das Rätsel, ihre Schönheit im Tod zieht den Blick an, ihre Geschichte aber, wie oben schon aufgeführt, erzählen andere. Die Autorin prägt dafür den Begriff der „Dead Girl Show", ein Genremuster, das sie vor allem bei den hochproduzierten teuren Fernsehserien der letzten Jahrzehnte identifiziert. Die Formel: Eine junge, oft weiße, oft schöne Frau wird tot aufgefunden, und ein männlicher Ermittler beginnt zu ermitteln. Twin Peaks etablierte 1990 mit Laura Palmer das Urmodell. Die in Plastikfolie gewickelte Leiche am Flussufer wurde zur Ikone, ihr Gesicht zum Serienposter. Wer war Laura Palmer? Egal, hier ist ein kultiger Detective, das ist viel interessanter!

Wer war Laura Palmer? Egal, hier ist Dale Cooper, um den geht es ja eigentlich! Screenshot von der Amerikanischen Amazon Prime Webseite (17.12.2025)

Am meisten nervt es mich aber, wie solche Erzählungen ihren voyeuristischen Blick immer wieder als Gesellschaftskritik tarnen und so auch rezipiert werden. Die Serien und “Dokus” behaupten, etwas über Gewalt gegen Frauen auszusagen, über Machtstrukturen, über das Böse in der Provinz. Doch die Kameraführung, die Bildsprache, die Erzählperspektive reproduzieren genau jene Objektivierung, die sie angeblich anprangern.

Ich beobachte dieses Muster auch beim Thriller-Everybody’s Darling Sebastian Fitzek. Ich meine: Alle lieben Fitzek, ich hatte noch nie ein Buch von ihm gelesen, fand ihn aber auf Instagram immer mega sympathisch und dachte mir: Ja Mensch, gerade kam ein neues raus und es geht um Gewalt gegen Frauen, ein Thema, das mich sehr interessiert … also holste dir das. Wow, war das ein Fehler!

In Interviews kam es so rüber, als wolle er mit Der Heimweg aufmerksam für das Thema Gewalt gegen Frauen, bzw. häusliche Gewalt, schaffen. Das Aufmerksammachen auf das Thema sah dann so aus:

»Das dunkelhaarige und -häutige Mädchen – sie konnte nicht älter als achtzehn sein – hatte eine zierliche Figur. Bei jedem ihrer stoßweise gehenden Atemzüge bohrten sich die Rippen wie Fingerknochen eines alten Mannes durch die Haut über ihrem Brustkorb, der von Blutergüssen und offenen Wunden gezeichnet war.
Sie bekam kaum Luft, so eng war das Hundehalsband gezogen, dessen Leine ein kräftiger Kerl mit zerknitterter Abendgarderobe hielt. In der anderen Hand hatte er einen Lötkolben, mit der ihr offenbar bereits Verletzungen auf dem Rücken und dem Hintern beigebracht worden waren.“

„Wir haben unser Spielgerät (Martin sagte tatsächlich Spielgerät!) von ihrem Besitzer zur freien Verfügung gekauft. Das bedeutet, wir können alles mit ihr machen.“

„Willst du mit dem Lötkolben ihre Augen oder ihre Vulva veredeln?“

– Sebastian Fitzek: Auszüge aus “Der Heimweg”

Das geht so seitenweise, ich hab das Buch recht schnell abgebrochen, weil ich mir sonst auf den Schoß gekotzt hätte. Detaillierte Beschreibungen sexualisierter Folter, minutiös geschilderte Misshandlungen, das Leiden der Frauen in Nahaufnahme, und dabei ein hanebüchener und absolut absurder Plot, der so zurechtgebogen wird, damit man eben all diese ekligen Sachen zeigen kann. Fitzek liefert damit genau das, was er angeblich kritisiert: Die Gewalt wird zum Spektakel, das Grauen zum Pageturner, und die Kasse klingelt. Wer Gewalt gegen Frauen so ausführlich, so genüsslich, so detailverliebt schildert, macht keine Aufklärungsarbeit. Er bedient den Markt. Die Brutalität verkauft sich, die Qualen der Opfer werden zur Ware. Dass vor allem Frauen gerne Fitzek lesen, diese Ironie bleibt mir dabei nicht verborgen, auch noch so ein Thema für sich. Jedenfalls: Leser:innen können sich einreden, sie würden sich mit einem wichtigen Thema auseinandersetzen, wenn sie so etwas lesen. Am Ende steht die Telefonnummer des Heimweg-Telefons, also muss es doch wichtige Aufklärung sein, oder?

Tote und gequälte Frauen bilden die Basis für erfolgreiche Künstlerkarrieren

Jan van Boendale: Brabantsche Yeesten (13./14. Jahrhundert)

Fitzek bedient damit eine lange, lukrative Tradition. Viele Thriller leben von einem Spagat zwischen moralischer Empörung und sadistischer Geilheit. Du darfst alles zeigen, wirklich jede Widerwärtigkeit, solange am Ende die Guten gewinnen oder im Abspann die Nummer vom Hilfetelefon steht. Die toten und gequälten Frauen bleiben das Material, aus dem Künstler-Karrieren gemacht werden. Und ich bin es so müde.

Ich kann das einfach nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr lesen. Ich habe keine Geduld mehr dafür, mir die Rechtfertigungen von Schriftstellern oder Regisseuren anzuhören, wieso diese Ausbeutung des weiblichen Körpers total tiefgründig sei. Mir fehlt die Energie, höflich zu nicken, wenn jemand erklärt, die Vergewaltigung in Kapitel drei sei narrativ notwendig gewesen. Ich will keine Interviews mehr lesen, in denen ein Autor sich dafür auf die Schulter klopft, wie mutig er das Thema häusliche Gewalt angegangen ist, während er gleichzeitig jede Wunde, jeden Schrei, jede Erniedrigung mit der Akribie eines Fetischisten beschreibt. Gut, andererseits: Was soll er sonst sagen? Er kann ja schlecht sagen “mir ist nix anderes eingefallen, und ich habe einen Schocker gebraucht, damit die Leser:innen nicht einpennen.” Das wäre aber zumindest ehrlich gewesen.

“Wie oft ist Liv schon aufgefallen, dass es für die Handlung keinen Unterschied gemacht hat, dass die Misshandlung oft einfach nur als Schocker oder als verdichtendes Hintergrundrauschen dient, dass sie nur vorkommt, weil es dramaturgisch bequem ist, weil man gelernt hat, dass Frauenkörper eben zur Verfügung stehen – für die Entwicklung des männlichen Protagonisten, für seine Katharsis, zum Draufschlagen, zum Vergewaltigen, zum Töten und als Aufhänger für eine Geschichte, die gar nicht wirklich um die Frau geht. Wieso musste Powaqa in The Revenant vergewaltigt werden? Es hat nichts zur Story beigetragen. Und dann all die Toten in der Popkultur, Liv denkt an die namenlose schwangere Frau in Eminems Stan, an Julia bei Shakespeare, an die Frau in Nick Caves Song Where the Wild Roses Grow: Femizide sind Kulturgut und werden besonders oft von Männern erzählt.” – ”Da, wo ich dich sehen kann”, S. 253

Deshalb habe ich mich so lange gewunden, über das Thema zu schreiben. Wollte nicht in die gleiche Falle des Voyeurismus gleiten. Seit einer Weile lese ich fast nur noch Autorinnen, aber davor habe ich jahrelang Männer gelesen und deren Blick auf die Welt als den Standard beigebracht bekommen; in der Schule, an der Uni, im Feuilleton. Es hat lange gedauert, bis ich mich als Schriftstellerin freimachen konnte von Male Gaze, von den Erwartungshaltungen, es hat gedauert, bis ich meine eigene Perspektiven finden und auch wertschätzen konnte, bis ich mich selbst ernstnehmen konnte.

Mein Blick auf das Thema gehört den Überlebenden, den Hinterbliebenen, den Frauen, die weiterleben müssen mit dem, was ihnen angetan wurde oder was sie verloren haben. Mein Blick klebt nicht am Tatort, schwelgt nicht im Detail der Misshandlung, und an einer toten Frau finde ich nichts schön oder poetisch. Ich schreibe über den Schmerz danach, über das Leben, das weitergeht, obwohl es sich anfühlt, als dürfte es das nicht. Ich schreibe über Wut. Über meine Wut. Und die Wut meiner Figuren, die endlich zu Wort kommen dürfen. Denn das ist der Punkt: Die toten Frauen in der Kunst haben selten eine eigene Stimme. Sie sind Anlass, Auslöser, Anstoß für die Geschichten anderer. Sie werden betrauert, besungen, beschrieben, doch selber sind sie stumm.

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, zuzusehen. Weil mein Nachbar seine Frau getötet hat und die Welt einfach weitergedreht hat. Weil ich diese Ohnmacht irgendwo hinpacken musste, bevor sie mich auffrisst. Weil die Majas und Livs und Brigittes dieser Welt verdienen, dass ihnen zugehört wird.

Mein Nachbar wurde übrigens wegen Totschlags zu 13 Jahren Haft verurteilt. In seiner Verteidigung hat er nach Medienberichten angeführt, dass er seine Frau mit dem Messer nur habe beruhigen wollen, das habe schon einmal funktioniert. Ein SPIEGEL-Artikel fragte danach, ob es wirklich ein Femizid sei, wenn sie auch bei Streits genau so aggressiv war wie er. In einem langen Artikel wird die Beziehung nachgezeichnet und es wird als tragische Liebesgeschichte hingestellt, in der beide eine Form von Schuld tragen.

Wann hat man Schuld an der eigenen Tötung?

Ab wann ist man ein gutes Opfer?

Zur Frage des SPIEGELS, ob es ein Femizid gewesen sei, habe ich eine recht einfache Gegenfrage:

Wer ist tot? Er? Oder wieder einmal … sie?


Mein Roman “Da, wo ich dich sehen kann” erschien im Oktober bei Eichborn.

Mehr Infos zum Roman

Quellen und Material

Albrecht, Michael von, und Ovid. Metamorphosen. Lateinisch Deutsch. Ovid zweisprachige Ausgabe. Literatur für den Lateinunterricht. Stuttgart: Reclam, 1994.

Beard, Mary. Women and Power: A Manifesto. London: Profile Books, 2017.

Bolin, Alice. Dead Girls: Essays on Surviving an American Obsession. Boston: Mariner Books, 2018.

Edgar Allan Poe Society of Baltimore. “The Philosophy of Composition.” Zugegriffen 15. Dezember 2025. https://www.eapoe.org/works/essays/philcomp.htm.

Fitzek, Sebastian. Der Heimweg. Hörbuch. Gelesen von Simon Jäger. Berlin: Audible Studios, 2020.

Forchieri, Sofía. “Remembering for the Future: Feminicide Literary Narratives and the Formation of Feminist Collective Subjects.” Memory Studies 18, Nr. 1 (2025): 59–75. https://doi.org/10.1177/17506980231224755.

Fox, Cora. “Introduction.” In Ovid and the Politics of Emotion in Elizabethan England, herausgegeben von Cora Fox. New York: Palgrave Macmillan, 2009. https://doi.org/10.1057/9780230101654_1.

Jossa, Emanuela. “Femicide in Contemporary Fantastic Literature: Solange Rodríguez Pappe, Mónica Ojeda and Denise Phé Funchal.” In The Routledge Handbook of Violence in Latin American Literature. London: Routledge, 2022.

Jüttner, Julia. “Hamburg: Ein Mann ersticht seine Frau. War die Tötung der Stefanie W. ein Femizid?” Der Spiegel, 18. Oktober 2025. https://www.spiegel.de/panorama/hamburg-ein-mann-ersticht-seine-frau-war-die-toetung-der-stefanie-w-ein-femizid-a-4fdf7ea6-7046-4497-99d6-1d46c131bf15.

Ovid. Metamorphosen. Übersetzt von Michael von Albrecht. Stuttgart: Reclam, 2021.

Richlin, Amy. Pornography and Representation in Greece and Rome. New York: Oxford University Press, 1992.

Schreiber, Jasmin. Da, wo ich dich sehen kann. Roman. Köln: Eichborn, 2025.

Segal, Naomi. “The ‘Femme Fatale’: A Literary and Cultural Version of Femicide.” Qualitative Sociology Review 13, Nr. 3 (2017): 102–117. https://doi.org/10.18778/1733-8077.13.3.07.

Wikipedia. “Femme fatale.” Letzte Änderung 29. Juni 2025. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Femme_fatale&oldid=257462983.

Wikipedia. “Women in Refrigerators.” Letzte Änderung 10. Dezember 2025. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Women_in_refrigerators&oldid=1326725450.

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Ecological Grief, oder: das Unfassbare fassbar machen.